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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

ein derber Familienvater geschwungen, der im vollsten Gefühl seines Rechts – auf dem schon vorher eroberten Eckplatze saß seine ihm ebenbürtige Gattin – auf den Rücken des Amtsrichters drosch und ihn herunter zu zerren suchte.

Karl hielt nach dem Losungswort „nur über meine Leiche!“ unentwegt Stand, als ein bis auf den heutigen Tag unaufgeklärter kleiner Stoß aus dem Innern des Wagens – wahrscheinlich von obengenannter Gattin ausgetheilt – ihn in seinem unsichern Standpunkt erschütterte und seinem Angreifer Gelegenheit gab, sich in seine so schwer errungene Stellung zu begeben.

Empört, gestoßen, gepufft, mit zerdrücktem Hut sprang Karl vom Trittbrett herunter und bot seiner Frau den Arm, sie voll blinder Wuth mit sich fortziehend, während Rüdiger und Anna gedankenlos folgten.

„Ich werde doch sehen, ob ich mir nicht Recht schaffen kann!“ keuchte der Amtsrichter und wanderte, ohne Ziel und Richtung zu beachten, über den Bahnhof. „Sie müssen uns mitnehmen, das habe ich zu verlangen,“ sagte er, die Billette emporhaltend, „wartet nur ruhig ab – sie müssen Wagen anhängen, oder ich beschwere mich!“

Der Amtsrichter beschwerte sich nämlich mit Wonne wie viele cholerische Menschen und hätte eine Reise, auf der er sich nicht mindestens einmal beschweren konnte, halb und halb zu den verfehlten Unternehmungen gerechnet.

Ein Schaffner, der unsern halb betäubten Reisenden eben in den Weg lief, wurde von Karl mit der heute schon unzählige Male wiederholten Frage: „Haben Sie noch Platz für uns?“ angehalten.

Zur größten Ueberraschung erwiderte der Gefragte höflich: „Ja wohl, mein Herr, – bitte einzusteigen!“ – öffnete einen ganz leeren Wagen und ließ unsere ganze Gesellschaft darin sich einschachteln.

Während der Amtsrichter halb erleichtert, halb gekränkt, und die Freude des Beschwerens gebracht zu sein, sich zurechtsetzte, schloß der Beamte die Thür – es pfiff, und der Zug fuhr langsam aber sicher mit unsern beiden Paaren zum Bahnhof hinaus.

„Na, das nennt man noch vor Thorschluß mitkommen!“ sagte Karl behaglich und legte sich in die Kissen zurück, „seht Ihr, sie haben Wagen angehängt! Man muß sich nur nichts gefallen lassen – merkt Euch das! Aber,“ setzte er hinzu, „solche Prügel wie heute auf dem Wagentritt habe ich doch seit Sexta nicht mehr bekommen, das muß ich sagen!“

Die andern lachten mit ihm und die Fahrt ging weiter, ohne daß man auf den Weg geachtet hätte, der ja auch unseren Reisenden ganz fremd war. Helene schloß ermüdet die Augen, Anna und Rüdiger plauderten halblaut und Karl nahm seinen Hut ab, um die Spuren des männermordenden Kampfes daran zu vertilgen.

Da tönte auch schon ein langgezogener Pfiff, – der Zug hielt.

Neugierig steckten unsere Reisenden die Köpfe zum Fenster hinaus – ein kleiner, einsamer Bahnhof lag vor ihnen und nur zwei oder drei Menschen stiegen langsam und gemächlich aus.

„Ach, das ist noch nicht Berlin!“ sagte Karl etwas enttäuscht und setzte sich wieder zurecht.

Da öffnete der Schaffner die Thür: „Alles aussteigen – Station Wildpark!“

Karl blieb sitzen.

„Ich will aber nicht nach Wildpark!“ sagte er.

„Das thut mir sehr leid, das hätten Sie sich früher überlegen müssen,“ sagte der Schaffner kühl, „jetzt sind Sie in Wildpark!“

Unsere Reisenden sahen sich wortlos an.

„Wir wollten ja nach Berlin!“ brachte Helene endlich kläglich hervor.

„Da sind Sie in einen falschen Zug gestiegen,“ erklärte der Schaffner bedauernd.

„Warum haben Sie uns das denn nicht gesagt?“ schrie Karl wuthbebend.

„Sie haben mich ja gar nicht gefragt!“ erwiderte der Beamte nun auch mit erhobener Stimme.

„Ich werde mich beschweren!“ zischte Karl, dem die Stimme den Dienst versagte, „was fange ich denn nun hier an? Ich beschwere mich!“

„Ja, das ist Ihre Sache!“ sagte der Schaffner, dem nun auch die Geduld riß, „ein andermal fragen Sie erst, wo ein Zug hinfährt, eh’ Sie sich hineinsetzen! Das Unglück ist übrigens nicht so groß,“ setzte der Beamte mit einem mildern Blick auf die verzweifelten Gesichter der Damen hinzu, „wenn Sie sich beeilen, können Sie hier Billette nachlösen und in demselben Wagen in zehn Minuten über Potsdam zurück nach Berlin fahren!“

Helene und Anna dankten erfreut und erleichtert, während die Herren noch sehr beleidigt aussahen und vergeblich nach einem Vorwand sannen, um der Bahnverwaltung die Ursache des Unfalls aufzubürden.

Als man aber zum zweitenmal in den Potsdamer Bahnhof einfuhr, sagte Karl sehr befriedigt:

„So, nun haben wir hier unsere schönen, festen Plätze und brauchen uns nicht zu drängen – seht Ihr!“

Sein Ton schien anzudeuten, daß er bereits anfing, die unfreiwillige Fahrt nach Wildpark für eine Art genialen Schachzugs anzusehen, durch den er sich und den Seinigen eine bequeme Rückfahrt gesichert habe. Man sah nun dem Gewühl und Geschrei auf dem Bahnhof mit den Empfindungen von Menschen zu, die aus wohlverwahrtem Hause Sturm und Wind brausen hören und sich bewußt sind, daß ihnen beides nichts anhaben kann.

So ganz unbedrängt sollte nun aber die Familie doch nicht davonkommen. Ihre Wagenthür wurde jetzt aufgerissen und eine Anzahl von Reisenden kletterte zu ihnen herein, bis der Schaffner hinter einem letzten Einsteigenden die Thür zuschlug und der Zug im selben Augenblick losfuhr, als der neue Ankömmling mit einem erleichterten „So!“ auf den Sitz gegenüber dem Amtsrichter sank und sich zu allgemeinem Schrecken als – Lebermann auswies.

„Lebermann!“ rief Karl beinahe mit Thränen der Wuth, „wie kommen Sie denn hierher?“

„Ja, das hätten Sie nicht gedacht,“ schmunzelte der Apotheker, „als Sie mich so treulos verließen! Ich nehme es Ihnen übrigens nicht etwa übel!“

„Schade!“ brummte Karl.

„Denn jeder ist sich selbst der nächste,“ fuhr Lebermann fort, „das sage ich auch immer! Aber ich habe mich ganz schlau frei gemacht! Ich gab dem Jungen, der mich gefaßt hatte, ein ordentliches Trinkgeld –“

In Karls Gesicht blitzte ein Gedanke auf – er unterbrach den Sprecher hastig.

„Still – ums Himmelswillen!“ sagte er, sich ängstlich umsehend, „nicht so laut!“

Lebermann sah ihn verständnißlos an, während der Amtsrichter sich mit Rüdiger durch einen Blick in Verbindung setzte, den dieser auch sofort begriff und erwiderte.

„Sie haben den Gärtnergehilfen durch ein Trinkgeld dazu gebracht, daß er Sie laufen ließ?“ sagte der Amtsrichter mit leiser, aber düsterer Stimme; „Lebermann, da muß ich Ihnen sagen, da haben Sie eine große Dummheit gemacht – das wird Ihnen sehr schlecht bekommen!“

„Ja – wieso denn?“ stammelte der Apotheker bestürzt.

„Wissen Sie, wie man das nennt?“ frug Karl feierlich; „‚Bestechung‘! Lebermann, Lebermann, da können Sie schön ankommen!“

„Ach was!“ sagte Lebermann etwas bleich, aber mit erkünstelter Leichtfertigkeit; „ich lasse mich nicht ins Bockshorn jagen – wird so schlimm nicht sein!“

Karl sah ihn strafend an.

„Bin ich Jurist, oder sind Sie’s?“ frug er nachdrücklich, „Bestechung, Paragraph 333, Gefängniß – Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte – Geldstrafe bis zu 1500 Mark! Was sagen Sie jetzt?“

„Ums Himmelswillen!“ rief Lebermann händeringend, „ich habe auch noch einen Schutzmann gefragt, ob der Gärtner das Recht gehabt hätte, mich zu verhaften – wenn der nun nachforscht!“

„Das ist eine böse Geschichte!“ bestätigte Rüdiger nun auch, „das kann sehr unangenehm werden!“

Beide Herren sahen sich wieder ängstlich im Wagen um, ob auch keiner der Mitreisenden ihr Gespräch belausche.

„Ja, was mache ich denn nun?“ frug Lebermann kläglich.

Die ganze Gesellschaft verstummte und saß eine Weile in düsterem, nachdenklichem Schweigen bei einander.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 815. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_815.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)