Seite:Die Gartenlaube (1889) 816.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Was ich thäte, weiß ich,“ nahm der Amtsrichter endlich wieder das Wort, „ich machte, daß ich nach Solau zurück käme. Es ist zwar kein streng gesetzlicher Rath, den ich Ihnen da gebe, aber es wäre mir doch peinlich, wenn ein alter Bekannter hier in solche Sachen verwickelt würde.“

„Um so mehr,“ setzte Rüdiger mit durchbohrenden Blicken hinzu, „da wir, der Herr Amtsrichter und ich, als Zeugen vernommen werden könnten – sehr – sehr peinlich!“

„Wenn ich Ihnen rathen soll, Lebermann,“ sagte Karl, „so fahren Sie geradeswegs von der Bahn nach dem Hotel – bezahlen Ihre Rechnung – aber möglichst ruhig, nicht etwa mit auffälliger Hast, vor der Sie sich auch auf dem Bahnhof hüten müssen! – und reisen heut abend nach Hause; weit davon ist gut vorm Schuß! Unmaßgeblich, Lebermann! Ich will Sie zu nichts veranlassen, was Sie lieber nicht thäten.“

„Sie haben ganz recht,“ sagte der arme Lebermann, „ich bin Ihnen sogar sehr dankbar, Herr Amtsrichter!“

Und er drückte Karl mit Innigkeit die Hand.

„Bitte!“ erwiderte dieser etwas beschämt, und er wäre am Ende noch gerührt worden, wenn nicht in dem Augenblick der Zug gehalten hätte und Berlin erreicht worden wäre.

Der zitternde Lebermann griff nach seinem Ueberrock und Hut. „Ich gehe jetzt gleich nach dem Hotel,“ sagte er mit sichtlicher Angst.

„Das machen Sie sehr recht!“ nickte Karl billigend, „ich wollte, ich könnte mit Ihnen zurückfahren – aber meine Damen würden doch zu unglücklich sein!“

Man stieg aus und gerieth sofort in das undurchdringlichste Gewühl der Reisenden, in dem Lebermann nach flüchtigem, kurzem Abschiedsgruß an den Amtsrichter untertauchte und verschwand wie ein gehetztes Wild, während dieser über seine gelungene Niedertracht frohlockte und sich jetzt nach dem Rest seiner Gesellschaft umsah. Aber wehe ! Die Häupter seiner Lieben bestanden nur noch aus seinem eigenen Haupt und dem seiner Frau – Rüdiger und Anna waren spurlos verschwunden!

Das Gedränge hatte die beiden von ihren natürlichen Beschützern getrennt, und es war ihnen unmöglich, sich wieder mit denselben zusammenzufinden. Anna, der die Thränen in den Augen standen, flehte nur Rüdiger an, nicht zu rufen, da sie ihres Schwagers Abneigung gegen öffentliche Namensnennung genugsam kannte. Als die vollständige Unmöglichkeit, durch den Augenschein die Verlorenen wieder zu erlangen, klar zu Tage trat und das erst verschmähte Hilfsmittel des Rufens nun doch ergriffen wurde, war es zu spät – die Menge verlief sich bereits, und Rüdiger und Anna standen verlegen und bestürzt allein miteinander, was unter andern Verhältnissen gewiß seine großen Annehmlichkeiten gehabt hätte, auf dem Bahnhof und sahen sich stumm an.

„Ja, was thun wir jetzt?“ nahm der junge Arzt endlich beklommen das Wort. „Das Klügste wird wohl sein, wenn ich Sie sofort nach dem Hotel zurückbringe, Fräulein Anna – dort finden Sie die Ihrigen so sicher wieder, und wir gehen dann alle zusammen ins Theater.“

Anna willigte ohne weiteres ein. Auch ihr schien dieser Ausweg der beste, und man bestieg eine Pferdebahn und sauste dem Hotel zu.

Dort angekommen, fand man aber die Gesuchten nicht und wurde durch den Portier beschieden, daß die Herrschaften nur vorgefahren wären und sich alsbald nach dem Opernhaus begeben hätten. Anna rang die Hände – es war ja auch eine höchst peinliche Lage, in der sie sich befand!

„Also jetzt nach dem Opernhaus!“ entschied Rüdiger, bot Anna den Arm und ging mit ihr die Straße hinunter, während sie so erbarmungswürdig schluchzte, als wenn sie, statt zu den „Lustigen Weibern von Windsor“, aufs Schaffot geführt werden sollte.

Inzwischen hatte der Amtsrichter mit seiner Frau sich, wie wir gehört haben, vom Bahnhof nach dem Hotel begeben, dort nach Anna gefragt und, als sie nicht vorhanden war, sich in der festen Ueberzeugung, sie sei mit Rüdiger unmittelbar von der Bahn nach dem Opernhaus gegangen, auch dorthin verfügt.

Hier stand nun das Ehepaar auf dem großen Platz, Karl vor Ungeduld und Aerger mit dem Fuß stampfend, als sollte er Pflastersteine einrammen, Helene zitternd vor Besorgniß, Abspannung und Erregung, und suchte unter dem zuströmenden Theaterpublikum nach den Vermißten.

Karl zog die Uhr. „Gleich sieben! Wir kommen noch zu spät!“ sagte er stirnrunzelnd, „Anna sitzt am Ende mit Eurem Doktor doch im Hotel und wartet dort auf uns – ich werde hinfahren und sie abholen. Du bleibst hier, Helene, für den Fall, daß sie etwa vor mir hier eintreffen sollten!“

Nun brach auch Helene in Thränen aus.

„Nein,“ rief sie außer sich, „ich bleibe nicht hier! Ich fürchte mich zu Tode, Karl, abends allein in der fremden, großen Stadt! Wenn auch Du dann nicht wieder kommst, bin ich verloren!“

Und sie verbarg das Gesicht im Taschentuch. Karl stand rathlos.

„Ich will Dir etwas sagen,“ begann er nach einer Pause. „Siehst Du den Schutzmann dort? Der geht immer vor dem Theater auf und ab. Gehe Du immer hinter dem her, da thut Dir kein Mensch etwas! Ich schwöre Dir, Helene, ich bin in einer halben Stunde wieder hier, wenn ich Anna im Hotel finde – sei doch vernünftig!“

Er entfernte sich eilig, und Helene, in einer Hand Opernglas und Fächer, in der andern das Taschentuch, folgte mit zitternder Gewissenhaftigkeit und bitterlich weinend den Spuren des Schutzmanns, der ihr als einziger Fels in dem brandenden Meer des Berliner Lebens erschien.

Nach einer Viertelstunde etwa, die sie in dieser wenig belustigenden Weise verbracht hatte, entdeckte sie endlich Rüdigers Gestalt mit ihrer Schwester am Arm.

„Hier, hier!“ rief sie überlaut und aller großstädtischen Haltung vergessend und schwang ihr Thränentuch hoch in der Luft; das ankommende Paar, das sich in sichtlicher Verwirrung befand und sich gegenseitig nicht ansah, stürzte dann auf sie los, und Annas erste Frage war: „Wo ist Karl?“

„Ja, wo ist Karl?“ gab Helene erschreckt zurück, „er hat Dich ja doch abgeholt?“

O weh – Karl war also an den beiden wieder gerade vorbeigefahren, und wenn sich jetzt wieder jemand nach dem Hotel zurückbegab, um ihn zu holen, so war kein Grund ersichtlich, warum dies Spiel nicht bis zum nächsten Morgen fortgesetzt werden sollte. Die drei Zurückgebliebenen sahen sich mit dem deutlichen Gefühl an, daß sie als lebende Illustration zu der bekannten Geschichte von Wolf, Kohlkopf und Ziege dienen konnten. In Helene dämmerte nebenbei beim Anblick ihrer Schwester die unabweisbare Ueberzeugung auf, daß dies Kind die so entschieden günstige Gelegenheit benützt habe, um sich mit Rüdiger zu verloben – Anna sah sie so beweglich stehend an! Empfindungen jeder Art bestürmten die beiden Schwestern, und die kaum versiegten Thränenströme brachen aufs neue hervor, während Rüdiger tödlich verlegen dazwischen stand und sich in den Schoß der Erde wünschte, da das weinende Schwesternpaar schon die lächelnde Aufmerksamkeit der Vorübergehenden zu erregen begann.

In dem Augenblick stürmte, den Hut auf dem Hinterkopf, glühend roth vor Eile, Aerger und Aufregung, der ersehnte Amtsrichter herbei. Alle begannen nun auf einander einzusprechen, sich mit Erklärungen, Vorwürfen, Thränen und Abbitten zu überhäufen, während keins ein Wort von dem verstand, was das andere sagte.

„Und zum Ueberfluß versäumen wir noch den ersten Akt der ‚Lustigen Weiber‘,“ sagte Karl, sich die Stirn trocknend, „und im ersten Akt kommt gerade meine Melodie vor. Wann fängt es denn an?“

Er sah nach dem Zettel und prallte erschreckt zurück.

„Na, das fehlt bloß noch!“ sagte er dumpf.

„Was giebt’s denn?“ frugen die andern gespannt.

„Die ‚Lustigen Weiber‘ werden gar nicht aufgeführt, sondern ‚Rienzi‘,“ sagte Karl niedergeschmettert, „den ‚Rienzi‘ kann ich nach dem gehetzten Tage heut nicht aushalten – ich gehe ins Hotel und lege mich schlafen.“

Die übrigen fühlten sich auch nicht sehr für „Rienzi“ gestimmt – andererseits aber schien die einfache Rückkehr ins Hotel doch eine zu zahme Auflösung des Abends. „Das hätten wir auch in Solau haben können!“ sagte Helene halblaut.

„Ja ja, es ist dumm,“ gab Karl bedrückt zu, „aber Wagnersche Musik nach diesem Hetzen und Rasen – das halt’ ich nicht aus! Da hätten wir ebenso gut den Lebermann dabehalten können!“

Anna und Rüdiger hatten unterdeß ein paar leise Worte gewechselt.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 816. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_816.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)