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verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Nun setzte der Chor von Sakuntalas Gespielinnen ein und ein rauschender Strom von süßem Wohllaut durchfluthete von der Empore herab den Saal.

„Reizend! Entzückend! Welch’ eine Musik!“ flüsterte man sich hier und da zu. Aber diejenigen, welche sich’s nicht versagen konnten, dem Verlauf der Tondichtung an der Hand des Textbuches zu folgen, verharrten in gespanntestem Schweigen; denn sie wußten ja, daß unmittelbar auf diesen Chor ein Solo der Gardini folgte.

Und da – die gefeierte Sängerin war bereits bis an die Orchesterrampe vorgetreten, den schönen Kopf ein wenig zurückgeneigt, so daß die Steine, welche ihren Hals schmückten, wie in einem Brillantfeuerwerk auffunkelten – da, statt der erwarteten Töne voll quellenden Wohllauts ein kurzes hartes Aufklopfen des Dirigentenstabes und ein jähes, gehorsames Verstummen aller Instrumente.

Mit einer langsamen Armbewegung schlug Gerhard Steinau die Partitur zu und legte den Taktstock auf das geschlossene Buch. Dann wendete er sich gegen das Publikum, in ruhiger fester Haltung, aber mit wahrhaft erschreckend bleichem Gesicht und mit fiebrisch glühenden Augen.

„Meine Damen und Herren! Ich muß zu meinem Bedauern auf die Ehre verzichten, Ihnen mein Werk vorzuführen. Ein Unwohlsein, das sich mit jeder Minute steigert, macht es mir unmöglich, weiter zu dirigiren, und ich kann es nicht über mich gewinnen, die Leitung der Aufführung anderen Händen anzuvertrauen. Man wird das Eintrittsgeld an der Kasse zurückerstatten.“

Er machte eine Verbeugung und stieg von seinem Platze herab, um langsam durch den schmalen Gang im Orchester der kleinen Ausgangsthür zuzustreben. Und während er ging, blieb es unter der vielhundertköpfigen Menge diesseit und jenseit des Orchesters todtenstill. Das Unerwartete, Ungeheuerliche des beispiellosen Vorganges hatte eine gleichsam lähmende Wirkung hervorgebracht. Aber das Geräusch der kleinen Thür, die sich hinter Gerhard schloß, löste die Erstarrung.

Mit einem gellenden Aufschrei brach Rita Gardini ohnmächtig zusammen. Sie allein wußte, was die unerhörte Handlungsweise Gerhards zu bedeuten habe, sie hatte den Blick verstanden, den er ihr zugesandt, als er das Zeichen zum Abbrechen der Musik gegeben hatte, und das Bewußtsein der Unmöglichkeit, die grausame, tödliche Beleidigung auf der Stelle an ihm zu rächen, warf sie nieder.

Und während man sie in das Künstlerzimmer trug, wo einige Damen sich unter dem Beistand eines Arztes bemühten, sie ins Leben zurückzurufen, entleerte sich langsam und unter lautem Lärm der Saal. – – – – – – – – – – – – – – – – –

Wie lange Zeit er gebraucht, und welche Wege er eingeschlagen hatte, um zu seiner Wohnung zu gelangen, darüber hätte Gerhard selbst wohl schwerlich Auskunft zu geben vermocht. Der Diener, welcher ihm öffnete, schien von allem unterrichtet zu sein, denn er sprach kein Wort, während er ihm behilflich war, den Ueberrock abzulegen. Erst als sich Gerhard mit gesenktem Haupt und müden Bewegungen der Thür zu seinem Arbeitszimmer zuwendete, fragte er mit einer gewissen unsicheren Hast:

„Befehlen Sie, daß ich drinnen Licht anzünde, Herr Steinau? – Es ist noch ganz dunkel.“

Aber der Gefragte lehnte kurz ab.

„Nein! Es ist mir eben recht so!“ sagte er mit rauher, fremd klingender Stimme. Dann schloß sich hinter ihm mit dumpfem Klange die Thür.

„Er auch nicht!“ murmelte der Diener mit einem Achselzucken. „Diese Scheu vor dem Licht muß ja ganz was Besonderes zu bedeuten haben!“

Gerhard machte in dem dunkeln Zimmer einige Schritte bis zu dem Ruhebett und warf sich auf dasselbe nieder. Es war todtenstill um ihn her, und diese Stille that seinen bis zur Raserei erregten Nerven unendlich wohl. Was er gethan hatte, war nicht eine Eingebung des Augenblicks, nicht die thörichte Handlung eines eigensinnigen Knaben gewesen, sondern ein Ergebniß langer und schwerer Kämpfe, eine Sühne für seine eigene Schuld und seine Rache an Rita, über deren Antheil an der Gestaltung seines Schicksals er ja nicht im Zweifel sein konnte.

Und er war sich der Folgen dieser Handlung wohl bewußt. An eine nochmalige Aufführung der „Sakuntala“ war nicht zu denken, und er selber wünschte sie nicht einmal. Doch darin lag vielleicht noch nicht einmal die schlimmste Folge dieses Abends. Die vermeintliche Rücksichtslosigkeit mußte ihm allgemein verübelt werden, und seine künstlerische Stellung war möglicherweise auf eine lange Zeit hinaus ernstlich erschüttert.

Vorübergehend schossen ihm alle diese Dinge durch den Kopf; aber sie erschienen ihm geringfügig und bedeutungslos jenem großen, unheilbaren Leid gegenüber, das er selbst durch die unsinnigen Aufregungen der letzten Stunden nicht zu betäuben vermocht hatte.

Mitten in das wüste Wirrsal seiner trostlosen Gedanken hinein summte wie zum Hohne immer und immer wieder eine Weise, die er als Knabe zuweilen von den blassen Lippen Bernhardis gehört hatte. Seit dem frühen Morgen dieses Tages klang sie ihm unausgesetzt im Ohr und selbst durch das Rauschen des vollen Orchesters hindurch hatte er sie zu vernehmen geglaubt.

Warum hatte ihm nur gerade diese eine unselige Stelle des traurigen Goetheschen Liebesliedes so fest im Gedächtniß bleiben müssen – –

„Es stehet ein Regenbogen
Wohl über jenem Haus!
Sie aber ist weggezogen,
Und weit in das Land hinaus.

Hinaus in das Land und weiter,
Vielleicht gar über die See – –“

Er stöhnte laut auf und drückte das Gesicht in die Hände. Da – was war das? – In jähem Erschrecken fuhr er empor. Ein warmer Hauch hatte seine Wange, seinen Hals gestreift, und nun fühlte er zwei Arme um seinen Nacken und einen weichen, schmiegsamen Körper an seiner Brust. Wie ein Blitz schoß ihm der Gedanke durch das Gehirn – Rita!

„Hinweg!“ schrie er in wildem Zorn. „Wie kannst Du es wagen, mich bis hierher zu verfolgen! – Hinweg, ich will Dich nicht sehen; denn Du bist die Mörderin meines Glücks!“

Aber die beiden Arme umschlangen ihn nur noch fester. Zwei warme Lippen suchten die seinigen und eine liebe Stimme flüsterte:

„Und wenn Du mich auch von Dir stoßen wolltest – jetzt lasse ich Dich nicht mehr; denn ich weiß ja, daß Du mich liebst!“

„Astrid – Du!“

Er brachte nicht mehr heraus als die beiden Worte, die wie ein Jubelruf durch das dunkle Zimmer klangen. Dann preßte er sie an sich, als ob er sie ersticken wollte mit seinen Küssen. –

Und endlich, nach einer Spanne seligen Schweigens, begannen sie einander zu erzählen, was sie gelitten und wie schwer sie gerungen hatten. –

Trotz aller Bitten und Warnungen der Rechnungsräthin, die um Astrids Gesundheit ernstlich besorgt gewesen war, hatte sich’s diese nicht versagen können, das Konzert zu besuchen. Von einem der verstecktesten Plätze aus, ihre schlanke Gestalt eng hinter eine Säule schmiegend, war sie Zeugin der außerordentlichen Vorgänge gewesen, welche sich dort vollzogen hatten, und sie war ebenso wenig wie die tief gedemüthigte Sängerin im Zweifel darüber gewesen, welche Deutung sie ihnen zu geben habe.

Was ihr jetzt noch zu thun übrig bleibe, sie hatte es auf der Stelle gewußt. In athemloser Hast war sie zu Gerhard geeilt, sich an seine Brust zu werfen und seine Vergebung zu erflehen. Als sie erfahren hatte, daß er noch nicht zurückgekehrt sei, hatte sie den Diener bestimmt, sie in dem dunkeln Zimmer warten zu lassen, ohne Gerhard etwas von ihrer Anwesenheit zu verrathen. Sie wußte ja, daß sie das Heilmittel besäße, welches ihm mit Zauberschnelle Genesung bringen würde, und sie hatte sich in der Hoffnung auf seine wunderbare Wirkung nicht betrogen.

* * *

Rita Gardini erhielt wenige Wochen später einen mehrmonatigen Urlaub zu einer Gastspielreise durch Amerika, und sie ist von dieser Reise nicht mehr in die Hauptstadt des Deutschen Reiches zurückgekehrt. Ueber die Gründe, welche sie dazu veranlaßt haben könnten, waren eine Zeit lang die verschiedenartigsten Gerüchte unter ihren Bewunderern und unter ihren Neidern im Umlauf.

Keines derselben traf die volle Wahrheit; denn Gerhard Steinau und seine glückliche junge Frau, die einzigen, welche das Geheimniß hätten verrathen können, sie thaten des Namens der Sängerin niemals Erwähnung, nicht einmal in jenen traulichen Stunden des Alleinseins, da mit den Erinnerungen an glückliche und leidvolle Tage der Vergangenheit auch das Bild des schönen, verführerischen Weibes lebendig wurde in ihren Herzen.




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