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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Ueberraschungen.

Eine Weihnachtserzählung von Victor Blüthgen. Mit Abbildungen von W. Claudius.

Ein tiefverschneites nordost-deutsches Landstädtchen um Weihnachten – man kann sich’s leicht vorstellen. Vor dem Ostthor, das längst niedergerissen ist, hat sich der Weg mit einer Anzahl kleiner Villen besiedelt, deren fragwürdiger Baustil jetzt durch kein Baumgrün verschleiert und gewissermaßen entschuldigt wird, und deren Farbe durch den Gegensatz des leuchtenden Schnees schmutzig erscheint . . . nun, heut gerade, am 24. Dezember, steht es nicht so schlimm damit, denn es ist vom frühen Morgen an so nebelig, daß Schnee und Häuserfarbe, wie die Maler sagen, „zusammengebracht“ werden. Die Villen liegen an der Landstraße, und diese Landstraße führt in etwa einstündiger Fahrt zum nächsten Bahnhofe; dies die Erklärung, weshalb sich das behagliche Leben hier im Osten, nicht wie sonst in der Regel im Westen des Ortes angesiedelt hat. Außerdem hat man hier allerdings auch an hellen Tagen den Ausblick auf einen mitten in Aeckern liegenden, schilfumsäumten kleinen See, ein fernes Stück Wald und eine noch fernere Hügelkette.

Doch das ist für unsere Geschichte nicht von Belang; wohl aber, daß die ganze Gegend im übrigen beinahe völlig flaches Ackerland aufweist.

Und das liegt heut im Nebel – Nebel – Nebel . . .

Die letzte Villa ist die jüngste. Sie gehört „Bussens“, wie man im Ort vertraulich sagt, denn man kannte die Familie schon lange, ehe sie sich am Ort anbaute; sie besaßen früher Tempelwiese, ein Gut in halbstündiger Entfernung. Weshalb Busse verkauft hatte? Ein Lieutenant, der durch eine Heirath reich geworden war, hatte durchaus Grundbesitzer werden wollen und dem Tempelwieser ein gutes Gebot gemacht; außerdem war Busse schon bei Jahren, zu gemüthlichem Leben geneigt, sein Sohn Erich aus dem Hause – bereits Referendar –, seine Tochter Sibylla oder „Billa“, wie sie in der Familie hieß, achtzehn Jahr alt, also auf dem Punkte, um gleichfalls demnächst am Arme irgend eines Bewerbers zu entschwinden. Was soll man da noch lange auf einem Gute wirthschaften? Frau Busse war ganz der nämlichen Ansicht.

Die Einrichtung in der Busseschen Villa sah einigermaßen zusammengewürfelt aus, alter Hausrath vom Gute und moderne Prunkstücke durcheinander. Man hängt nach mehr denn zwanzigjähriger Ehe an dem alten Gerümpel! Vater Busse las da beispielsweise am Fenster seine Zeitung nach dem Morgenkaffee in dem nämlichen altfleckigen Lederstuhl, der, so hochlehnig und so hart gepolstert, Jahre und Jahre bereits seine Ruhe bedient hatte. Ein richtiges verwettertes, beinah bäurisches „Oekonomengesicht“, etwas bärbeißig, etwas überlegt verschlossen, im Grunde gutmüthig. Jetzt hob er die scharfen stahlblauen Augen und sah seine Frau an, welche eben aus dem geräumigen „Gartensaal“ in das Familienzimmer trat mit der Miene einer eifrig Beschäftigten.

„Hast Du auch wirklich an Erich geschrieben, daß er und der Landow sich auf der Station einen Wagen nehmen sollen, Lottchen?“ fragte er in halbem Platt. „Sonst wäre ich doch dafür, daß wir den alten Pötter ’nüberschicken.“

„Ach gar! Laß dem alten Manne seine Ruhe heute! Freilich habe ich wegen des Wagennehmens geschrieben! Wenn sie nur den Zug nicht verpassen, das ist meine einzige Sorge. Ich bin gar nicht dafür, daß man immer den letzten möglichen Zug nimmt!“

„Na, dafür wird der Landow wohl sorgen!“ meinte der Hausherr mit leichtem Augenzwinkern. „Hat denn die Schulzen die Guirlande schon geschickt? Es war mir doch, als ob vorhin das Mädchen von ihr gekommen wäre. Das ist aber auch ein Nebel draußen, daß man von hier nicht bis an das Gitter sehen kann. Mir wird es ordentlich schwer, hier zu lesen.“

„Ja, die Guirlande ist da. Ich bin bloß froh, daß die Billa oben in ihrer Stube ist und nicht zufällig aufgemacht hat.“

„Na, ’nen Spaß giebt das doch! Wenn’s denn mal sein soll – und Du hast Dich ehrlich dafür ins Zeug gelegt, Lottchen, das muß wahr sein – dann gefällt mir’s auf diese Art am besten. Ich will bloß wünschen, daß das Kind die Ueberraschung gut verträgt. Sie ist mir so merkwürdig all die Tage her vorgekommen. Was hatte sie heute beim Frühstück wieder für rothe Augen!“

Frau Busse, die inzwischen in einem aufgeschlossenen Schrank zehn Schubladen auf- und wieder zugeschoben hatte, nickte etwas zerstreut. „Ich bin wahrhaftig froh, daß ein Ende wird. Das Kind ist von so heftiger und leidenschaftlicher Gemüthsart –“

„Von mir hat sie das nicht!“ lachte Busse mit gutmüthigem Spott auf.

Rasch fuhr ihr Kopf herum und die braunen Augen blitzten ihn an. „Na – komm Du mir heute so!“ Sicherlich, Frau Busse war eine energische kleine Frau und sie hatte sich in der Ehe die Butter nicht vom Brot nehmen lassen, obwohl sie keinen Heller Geld mitgebracht hatte – aber Bildung! Sie war eine Pastorstochter aus kinderreichem Hause, und sie war einst sehr hübsch gewesen und hatte reichlich „Temperament“, als der Gutsherr von Tempelwiese sie heimführte.

„Na, na,“ begütigte er. „Nun quäl’ Dich aber auch nicht so allein ab mit der Bescherung! Was hat die Billa oben herumzusitzen? Hol sie Dir herunter zum Baumanputzen, das bringt sie auf andere Gedanken. Der Nette unten“ – das war das Faktotum, welches sich Busse von Tempelwiese mitgenommen hatte – „liegt auch bloß am Ofen herum.“

„Das verstehst Du nicht. An den Christbaum lasse ich keine fremden Hände, das ist Familiensache; und was die Billa betrifft, so hat sie noch an ihren Weihnachtsarbeiten zu thun, wie sie mir gesagt hat.“

„Ich pfeif’ auf die alte greuliche Weiberquälerei mit Weihnachtsarbeiten –“

„Und freust Dich doch, wenn Du welche bekommst. Und nun lies Deine Zeitung und kümmere Dich nicht um meine Sache.“

„Wart, Katze, da hast ’nen Fisch!“ lachte er gemüthlich. Sie ging wieder in den Saal, eine Wolke Harzduft hereinlassend. Er schmunzelte auf seine Zeitung nieder, sah dann aber in den Nebel hinaus, wo schattenhaft sichtbar das Dienstmädchen, die Annemarie, und die Frau Nette Bretter voll Kuchen auf den Köpfen angeschleppt brachten. „Nun will ich bloß wünschen, daß sie gerathen sind,“ brummte er. Darauf las er wieder, zuweilen mit weiten Nüstern den Kuchenduft einziehend, der sich im Hause verbreitete.

Im Ofen sauste und krachte das so behaglich …

Da öffnete sich die Thür vom Flur her, und er gewahrte, daß es Billa war, die eintrat. Ein hübsches Geschöpf, zierlich, fast mager, den Kopf schwer voll braunen Haars, welches vorn kraus die halbe Stirne deckte und damit stark die nervöse Blässe des schmalen Gesichtchens hervorhob. Sie trug den Kopf steif aufgeworfen und sah aus wie jemand, der nach viel innerem Leiden einen trotzigen Entschluß gefaßt hat. So schritt sie, ohne von dem Vater Notiz zu nehmen, mit einer Handarbeit auf den Ofen zu, warf sich mit Entschlossenheit in den nächsten grünen Plüschsessel und griff, nachdem sie ein paar Sekunden wie abwesend in die Luft gestarrt und nun tief Athem geholt hatte, zur Nadel.

„Na, Lütting,“ warf Busse hin, der ihr mit innerer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 871. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_871.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)