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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Allmächtiger Gott,“ rief Erich, „das unselige Geschöpf!“

Er ging auf den Flur, griff zu Ueberzieher und Pelzmütze, pfiff dem Hunde und stürmte in den Nebel hinaus. „Ist sie wirklich mit dem Zuge abgefahren, dann muß ich sehen, wie ich die Sache einfädele,“ murmelte er bei seinem eiligen Gang.

Während die Zurückbleibenden die Köpfe schüttelten, Vermuthungen tauschten und nebenher horchten, um das Klingeln des Schlittens zu hören, der Billa etwa zurückbrächte – man konnte einander ja in der That möglicherweise verfehlt haben – durchmaß der Referendar den Weg bis zu Pötters. Dort erhielt er von der Frau des alten Fuhrmanns alsbald erschöpfende Auskunft.

„Natürlich; mein Mann hat sie mit dem Schlitten nach der Bahn gefahren. Sie hat was von einer Ueberraschung gesagt, zu Hause sollte niemand was davon wissen.“

„Wann sind sie abgefahren?“

„Um vier; ich habe ihr noch den Schlitten voll Decken gepackt.“

„Ja, dann müßte doch das Fuhrwerk lange zurück sein!“

„Wohl, das ist mir auch sonderbar. Es wird ihnen doch nichts zugestoßen sein? Alt-Pötting wird jetzt manchmal recht schwach im Kopfe; er ist ja all stark in den Jahren!“

Dem Bruder wurde wieder schwül. Immerhin hatte die Sache auch ihre tröstliche Seite: nahe genug lag die Hoffnung, daß irgend ein Zufall die Hinfahrt unterbrochen habe.

„Könnte Alt-Pötting wohl falsch gefahren sein?“ fragte Erich, einem plötzlichen Einfall folgend, die Frau.

„Ja, das wäre möglich; einmal ist er schon gegen Abend gefahren, da ist der Schimmel auf den Weg nach Tempelwiese abgebogen, weil er den mehr gewohnt ist als die Chaussee. Vater fuhr dazumal einen Reisenden, und der hat ihm alle Donnerwetter auf den Kopf geflucht, weil er darum den Zug verpaßte.“

Erich schnippte in die Luft.

„Na, Mutting, dann muß ich der Sache mal nachgehen. Ihren Haken hat sie freilich auch noch. Halb fünf wären sie in Tempelwiese gewesen – um fünf wieder auf der Chaussee – möglicherweise hätten sie noch zum Zug zurechtkommen können, und jetzt, halb neun, müßte der Alte doch wieder hier sein! Kann er wohl die Absicht haben, die Nacht drüben zu bleiben?“

„Das würde er schwerlich thun, wenn ihm nicht was ganz Besonderes begegnet.“

„Gute Nacht einstweilen, Mutting; ich forsche jedenfalls nach, wo sie geblieben sind, und Ihr bekommt Nachricht.“

„Gute Nacht, junger Herr!“

Erich verließ das Häuschen und ging ein paar Straßen weiter. Da lag die Post, die Postmeistersleute waren jedenfalls um den Weihnachtsbaum versammelt. Der Referendar ließ den befreundeten Postmeister in die Wirthsstube bitten, die zur Post gehörte.

„Dewitz, wollen Sie uns einen großen Gefallen thun?“

„Immer zu!“

„Sie haben keinen Telegraphennachtdienst. Aber wollen Sie nicht trotzdem einmal nach der Bahnstation telegraphiren, ob dort heut abend der alte Pötter mit meiner Schwester zu Schlitten angekommen ist? Sie ist mir entgegengefahren, und kein Mensch weiß, was aus dem Fuhrwerk geworden ist.“

„Alle Hagel – ist nicht zurückgekommen? Natürlich telegraphire ich; das ist ja eine dumme Geschichte. Alt-Pötting und so’n Nebel, die passen schlecht zusammen. Warten Sie, ich will bloß meine Frau benachrichtigen.“

Der Postmeister telegraphirte. – „Werde nachfragen,“ telegraphirte man zurück. Und endlich wieder das Zeichen: „Hier weiß niemand etwas von dem Fuhrwerk.“

„Da haben wir den Salat und keine Fische!“ sagte der Postmeister. „Was nun?“

„Ich muß suchen. Ich muß zuerst in Tempelwiese nachfragen, ob der Gaul etwa dahin abgebogen ist.“

„Wollen Sie eins von meinen Pferden reiten, Erich?“

„Sehr freundlich, aber das könnte bei dem Nebel für mich und für das Pferd schlecht ablaufen. Wissen Sie was, Dewitz? Geben Sie mir Ihre Wasserstiefel und Ihre Flinte.“

* * *

Der Schlitten mit Alt-Pötting und Billa war eine Weile flott auf der Chaussee hingeflogen. Vorn baumelte eine Laterne – zu sehen war nichts als ein kleines Stück Weg, das heißt Schnee mit Wagen- und Schlittenspuren. Der Alte vorn sprach nichts, Billa sprach auch nichts. Eine Art Ermüdung war nach den Aufregungen des Tages über sie gekommen, nur einen drängenden Zug nach vorwärts – weiter – zum Ziele fühlte sie. In den vielen Decken war ihr warm, und sie schloß die Augen.

„Na, Fräulein, sind Sie denn nun auch warm?“ fragte plötzlich die schläfrige Stimme des Alten. Er hatte den Kopf zu ihr umgewandt und ließ das Pferd mit lockerem Zügel gehen.

„Ja, Pötting, ich sitze wie am Ofen.“

„Na, dann ist das ja gut. Meine Alte war sehr in Sorge, daß Sie sich verkühlen könnten. ‚Sie wird ja wohl nichts Recht’s mitnehmen,‘ sagte sie, ‚von wegen der Ueberraschung, und weil Du bei Schneiders halten sollst, da sollen sie so wohl zu Hause auch nichts davon wissen, und wo soll das Kind da die Decken bis zu Schneiders bringen.‘ – Jü, Schimmel – nee, was ist das für ein holpriger Weg! Da kann eins ja umschlagen mit dem Schlitten, man weiß nicht wie! Erst ging das doch so gut! Aber so ist das mit den Chausseen, da kratzen sie über den ganzen Sommer den Dreck auf die Seiten, und wenn das friert – hopp! na nehmen Sie ’s nicht übel, ich muß da ein bißchen aufpassen.“

Der Weg war jetzt in der That für eine Chaussee merkwürdig ausgefahren. Die Laterne schlenkerte vorn wie besessen,

„Pötter! Seid Ihr’s?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 885. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_885.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)