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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Alt-Pötting schüttelte mit dem Kopf und Billa war alle Augenblicke genöthigt, sich mit beiden Händen an die Schlittenwände zu klammern. Eine unbehagliche Besorgniß bemächtigte sich ihrer, wie das so schleuderte und auf und nieder ging, bald hier hoch, bald da hoch, rechts – links – hinten – vorn. Sie besaß sicherlich Muth; aber hier brachte jeder Augenblick Ueberraschungen und den Schein einer neuen Gefahr.

„Pötting, soll das wohl auch der richtige Weg sein?“

„Wo wird er nicht, Fräulein! Auf der offenbaren Chaussee kann doch kein Mensch fehlen, wenn er acht giebt, und ich hab’ ja all immer aufgepaßt. Hopp – das ist doch rein toll, da hätte der alte Schlitten doch um ein Haar umgeworfen.“

Sie hielt standhaft aus und versuchte, aus den am Wege stehenden Bäumen, gegen welche der Schlitten ein paarmal derb anschlug, auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit des Weges Schlüsse zu ziehen. Allein aus diesen schattenhaften Gebilden war in der dicken Nebelluft nichts Rechtes zu machen; es waren eben Bäume, deren gab es aber auch an Feldwegen.

„Nu kommt das ja besser,“ meinte jetzt der Alte vorn und zog den linken Zügel an. In der That war da eine Art glatterer Weg, den der Schimmel nach einem gemächlichen Peitschenhieb einschlug. „So, nu sind wir zurecht,“ versicherte Alt-Pötting treuherzig und befriedigt. „Sie können da ganz ruhig sein, Fräulein! Ich bin ja den Weg hundertmal gefahren, zu allen Tages- und Nachtzeiten und auch zu allen Jahreszeiten. Freilich, wenn ein Mensch nicht Bescheid weiß, dann soll er das bei dem alten ekligen Nebel wohl sein lassen!“

Hopp – da ging es wieder an wie vorher, nur noch viel ärger. Billa war bald außer Zweifel, daß der Schlitten auf Sturzacker fuhr. Der Schimmel stolperte einmal über das andere, fiel in die Kniee und raffte sich wieder auf … Billa stieß einen Ruf des Erschreckens nach dem andern aus; jetzt: „Ach Gott, ach Gott!“ – die eine Kufe war in einen überschneiten Graben hinabgerutscht, die eine Schlittenwand hob sich, und da lag die Bescherung!

„Brr – brrr!“ Der Alte rappelte sich auf und stieß ein paar kräftige Flüche aus; der Schimmel wollte weiter und ließ sich nur mit Mühe halten.

„Pötting, Pötting, was macht Ihr . . . !“ Billa hatte just keinen Schaden davongetragen, sie hatte sich bereits aus den Decken gewickelt, stand auf den Füßen und stäubte den Schnee ab. So dicht war dieser häßliche Nebel, daß sie kaum die verstreuten Gegenstände richtig zusammenfinden konnte.

„Je ja,“ nickte der Alte, „nun glaube ich das beinahe selber, daß das nicht stimmt. Da soll doch der Teufel dreinschlagen. Ich weiß nur gar nicht, wie wir von der Chaussee abgekommen sind!“

„Aber wo sind wir hier? Ich komme ja nicht zum Zug nach der Bahn!“ jammerte Billa verzweifelt.

„Na, so schlimm wird das wohl nicht werden,“ war die zuversichtliche Antwort. „Steigen Sie nur wieder ein, Fräulein, und machen Sie sich alles gut zurecht. Aus der Gegend da sind wir ja doch gekommen; und wenn wir nun wieder dahin zurückfahren, dann müssen wir all wieder auf die Chaussee kommen, und so weit ist das doch auch nicht ab.“

Ihr war das Weinen sehr nahe; nebenher war sie versucht, zu glauben, der Alte sei nicht ganz nüchtern.

„Nein, Fräulein, so was müssen Sie nicht glauben,“ versetzte der merklich gekränkte Alte auf eine dahinzielende Aeußerung. „Ich habe wohl heute nachmittag so ’nen lütten Schuß zu mir genommen, aber das vertrage ich, das thue ich immer, und zuviel trinke ich nie.“

Sie gab ihren Verdacht auf, setzte sich zurecht, und Alt-Pötting machte mit dem Schlitten kehrt und fuhr wieder zurück. Er ließ den Schimmel langsam gehen und achtete auf die Spur, die sich bei der Herfahrt gebildet hatte. Billa beruhigte sich. Nach einer Weile kam das Gesicht des Alten wieder herum:

„Das ist mir doch neulich so gegangen, daß ich nicht aufgepaßt habe und daß der Schimmel bis nach Tempelwiese abgedrusselt ist. Da wußte ich natürlich Bescheid! Freilich war das auch ’ne stockfinstre Nacht.“

„Paßt lieber auf, Pötting, daß wir nicht von der Spur abkommen!“

„He – Sackerlot, da müssen wir wieder umkehren, da sind wir richtig wieder abgekommen.“

Er wollte rasch umlenken, aber er hatte die Rechnung ohne den Schimmel gemacht. Dem kamen die Zügel unter den struppigen Schweif – und war es dies oder eine störrische Anwandlung: kurz, er trottete unverdrossen vorwärts, und je schärfer der Alte den Zügel anzog, je kräftiger er die Peitsche brauchte, desto mehr griff das Roß aus. So ging es eine ganze Weile weiter.

Billa fing an zu schluchzen: „Wir kommen nicht heraus aus diesem Nebel!“

Der Alte schien sich in die Lage gefunden zu haben. „Das brauchen Sie nicht zu glauben; ich lasse den Schimmel laufen und halte immer nach links, dann ist das ja nicht anders möglich, wir müssen auf den Weg kommen, den wir von der Chaussee abgefahren sind, das ist doch ganz klar.“

Er fuhr fort, den linken Zügel anzuziehen.

„Fräulein,“ rief er nach einiger Zeit lebhafter als sonst, „nun haben wir wieder Spur, nun hat’s keine Noth; das ist ’ne ganz frische Spur, das ist unsre. Nun fahre ich wieder gerade aus. Wir müssen gleich auf den Weg kommen.“

Aber sie kamen auf keinen Weg, obwohl Billa zuweilen halten ließ und sich überzeugte, daß sie wirklich die frische Spur vor sich hatten. Plötzlich zog sie die Uhr.

„Allmächtiger Gott, es ist gleich sechs Uhr! Meine ganze Fahrt ist umsonst!“

„Ja, ist das richtig? Dann ist das freilich schlimm. Das thut mir aufrichtig leid, Fräulein. Aber ich weiß nicht, das ist doch rein wie verhext. Das muß doch ein Weg hier sein; da sind ja doch mehr Spuren . . . “

„Haltet an, Pötting; wir wollen rufen, vielleicht hört uns jemand, der uns auf einen Weg bringt.“

„Ja, das wird wohl das Beste sein.“

Der Schlitten hielt; man horchte – nichts zu hören. Rings die Nebelnacht, nur das Lichtfleckchen, welches die Laterne gab, ließ etwas erkennen, nur wenige Schritte weit, dann erstickte der Schein in braunem Dunst. Das Pferd war ganz voll Reif und dampfte; Billa saß mit finsteren gerötheten Augen, steif und frostig zusammengezogen, ihre Pelzsachen waren bereift. Alt-Pötting schloß die Fausthandschuhe vor dem Munde zusammen und grunzte hindurch, so laut er konnte: „Heda!“

„Hilfe!“ rief Billa.

Kein Laut!

„Das Beste ist schon, wir fahren die Spur weiter,“ meinte Pötter. „Einmal müssen wir ja doch auf richtigen Weg kommen. Es giebt doch soviel Wege in der Gegend.“

Und der Schimmel zog wieder an.

Billa fror und weinte vor sich hin. Eine grauenhafte Angst überfiel sie. War das eine Strafe des Himmels für ihre Flucht? O Gott, welch eine Weihnacht – die Leute standen in warmen Stuben um Christbäume und Geschenke, und sie – und sie . . .

Sie sah nach der Uhr, wieder, immer aufs neue. Eine Viertelstunde nach der anderen rückte vor, es wurde sieben, es wurde acht, es wurde halb neun. Sie war so erstarrt, daß sie die Uhr kaum mehr zu handhaben vermochte. Alt-Pötting fuhr mechanisch weiter, dann und wann Unverständliches brummend. Keines von beiden sprach ein Wort. Was auch? und mit diesen steifen Lippen . . .

Da – ein Schuß – ein Ruf, o Gott, ein menschliches Wesen! Ein ferner, dumpfer Ruf, kaum durch die greifbar dicke Atmosphäre dringend. Dann wieder ein Schuß – Hundegebell und danach – ein ganz eigenartiger Pfiff.

„Erich!“ schrie das arme Geschöpf auf, schrill und durchdringend. Sie hörte das nachfolgende Hundegebell nicht mehr; sie hatte den Erkennungspfiff aus den Kinderjahren vernommen, und nun hatte sie nicht mehr nöthig, sich aufrecht zu erhalten. Ihr Kopf sank zur Seite und in tiefer Ohnmacht lehnte sie gegen das Korbgeflecht der Schlittenwand.

* * *

„Pötter! Seid Ihr’s?“ ertönte es aus dem Nebel und ein Lichtschein wurde sichtbar.

„Wohl!“

„Mit meiner Schwester?“

„Wohl, junger Herr! Der Teufel hat uns hier auf dem alten Felde ’rumgeritten. Guten Abend auch!“

„Na, Billa, Du darfst auch von Glück sagen!“

Aber Billa antwortete nicht.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 886. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_886.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)