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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Herrgott,“ sagte Erich tödlich erschrocken, „das Mädchen liegt ja wie todt da! Sie wird doch nicht . . . “ „Erfroren sein,“ schwebte ihm auf der Zunge.

„Das ist wohl von der Angst gekommen. Es war auch zu arg, daß wir uns da gar nicht und gar nicht ’rausfinden konnten! Sie hat doch eben noch Ihren Namen gerufen!“

Erich nahm hastig Schnee vom Boden und rieb die Schwester – endlich! Gott sei Dank! schlug sie die Augen auf, hing sich um seinen Hals und schluchzte zum Erbarmen.

„Du armes Ding, Du armes Ding!“ sagte er und hielt das dick vermummte Geschöpfchen in den Armen. „Du mußt ja rein erfroren sein, Dein Gesicht ist wie ein Eisklumpen. – Nun bloß keine langen Umstände machen, Pötter! Vorwärts nach Hause, an den Ofen . . . “

„Niemals, Erich –“ im Umsehen war sie zu ihrer ganzen leidenschaftlichen Gluth erwacht. „Ich kann nicht wieder zurück zu den Eltern! Du weißt nicht – bringe mich irgendwohin, Erich, wenn Du einen Funken Liebe zu mir hast, irgendwohin, wo sie von meiner Anwesenheit nichts erfahren. Da will ich Dir beichten – –“

„Ruhig, ruhig, Du Hitzkopf, ich weiß alles.“

„Nun, dann begreifst Du – der Brief . . . “

„Daß Du’s nur weißt: kein Mensch hat ihn gesehen als ich, und hier ist er. Riz – raz – nein, den hebe auf und zeige . . . Na, es ist doch besser so!“ Er zerriß den Brief in winzige Fetzen und warf diese weit umher. – Er war richtig im Begriff gewesen, aus der Schule zu schwatzen!

„Mein Gott – wirklich – Erich . . . “

„Ja ja, auf mein Wort. Ich habe das Schriftstück oben gefunden, habe indeß vorgezogen – bedanke Dich bei mir! – es nicht an seine Adresse zu befördern, vielmehr allen einzureden, Du wärest in Deiner bekannten Manier, ohne jemand etwas zu sagen, nach der Bahn gefahren, um mich abzuholen – von der alten Pötter erfuhr ich, daß der Schlitten noch nicht zurück wäre; von Dewitz, der rasch telegraphiren mußte, daß Ihr nicht an die Bahn gelangt; den Rest konnte ich mir an den Fingern abklavieren. Das sage ich Dir, an mir ist ein Polizeidirektor verloren gegangen, die Nase habe ich dazu. Also wir bleiben dabei: Du hast mich holen wollen; und im übrigen wirst Du als gerettetes Familienglied zu Hause mit Pauken und Trompeten empfangen werden. Nun aber los!“

Da stand Billa, weit vorgeneigt, mit starren Augen.

Er schob Billa sanft in den Schlitten zurück, nahm die mitgebrachte Laterne aus dem Schnee auf, um sie aushilfsweise neben der Schlittenlaterne weiter zu benutzen, gab Pötter das Gewehr vor und setzte sich neben der Schwester zurecht.

Alt-Pötting kutschirte und blieb wohlweislich stumm. Um ein Haar wäre er auf der Chaussee wieder in der verkehrten Richtung weiter gefahren, wenn nicht der Instinkt des Schimmels die Entscheidung übernommen und diesmal die Ehre seines Herrn gerettet hätte. Erich war voll Uebermuth und litt keinen Augenblick, daß Billa zum Gefühl ihrer fragwürdigen Lage kam.

Der Schlitten klingelte, und der Hund tauchte wie ein Gespenst im Nebel auf und verschwand wieder . . .

* * *

„Pötter, halten Sie hier! Du bleibst noch ein paar Augenblicke sitzen, Billa! Ich gehe voraus.“

Erich hob die schwer bestiefelten Beine hinaus, ließ sich das Gewehr reichen und schritt bis an die Gitterthür des elterlichen Grundstücks . . . klapp! schlug sie zu. Und nun klingelte er – und verschwand in der Hausthür.

Billa stieß einen herzbrechenden Seufzer aus.

Aber nun öffnete sich die Thür wieder. „Immer ’ran, Pötter!“ rief Vater Busse. Da kamen sie zu dreien ihr entgegen. „Siehst Du, das hast Du ’mal von Deinem Eigensinn, Lütting. Das geht Kindern so. Mutter, nimm sie nur rasch an den Ofen, daß das Kind aufthaut; wir werden dann ja wohl endlich zum Bescheren kommen. Und Ihr fahrt nach Hause, alter Krümper; ich schicke Euch eine Flasche Rum zum Grog nach, daß Ihr wieder zu Schick kommt. Eure Frau wird sich schön um Euch sorgen!“

„Ich weiß nicht, Herr Busse, das ist mir doch auf alle Fälle ein Räthsel . . . “

„Das wollen wir morgen mal zu lösen versuchen, das giebt ein Feiertagsvergnügen; nun fahrt nur zu! Guten Abend auch!“

„Und ein vergnügtes Fest, Herr Busse! Jü!“

Der Hund kam mit in das Haus und schob sich unverzüglich hinter den Ofen, und am Ofen stand das arme Geschöpf, die Billa, ausgeschält, frostschauernd, bleich und stumm, mit großen Augen, dem Weinen nähe, während ihr die sorgliche Mutter heißen Thee einfüllte.

Ihre Flucht vergebens! Sie eine Gefangene der Weihnachtslust, sie mit dem jammernden Herzen! Und die Mutterliebe schlug so warme Wellen um sie, und der Vater lachte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 887. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_887.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)