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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Daß er mich abholen soll? Das thust Du nicht, Tante Regine, dazu bist Du viel zu gut. Du weißt es ja, wie streng der Papa ist, wie hart er strafen kann, Du klagst mich sicher nicht bei ihm an, Du hast es ja noch nie gethan.“

„Junge, laß mich in Ruhe mit Deinem verwünschten Schmeicheln!“ Das Gesicht der Frau Regine war noch sehr grimmig, aber ihre Stimme verrieth schon ein bedenkliches Schwanken und Hartmut wußte seinen Vortheil zu benutzen, er legte mit der ganzen Freiheit eines Knaben den Arm um ihre Schulter.

„Ich glaubte, Du hättest mich ein wenig lieb, Tante Regine, und ich – ich habe mich wochenlang gefreut auf die Fahrt nach Burgsdorf, ich habe mich krank gesehnt nach Wald und See, nach den grünen Wiesen und dem weiten blauen Himmel. Ich bin so glücklich hier gewesen – aber freilich, wenn Du mich nicht haben willst, dann gehe ich auf der Stelle. Du brauchst mich nicht erst fortzuschicken.“

Seine Stimme war zu einem weichen, schmeichelnden Flüstern herabgesunken, während die großen, dunklen Augen nur zu beredt die Worte unterstützten. Sie konnten noch heißer bitten als die Lippen und sie schienen in der That eine eigenthümliche Macht auszuüben – Frau von Eschenhagen, die ihrem Willy und ganz Burgsdorf gegenüber die unbeugsame Selbstherrscherin war, sie ließ sich hier zur Nachgiebigkeit bewegen.

„Nun, so bessere Dich, Du Eulenspiegel!“ sagte sie, ihm mit der Hand in die dichten Locken fahrend. „Und was das Fortschicken betrifft, so weißt Du es leider nur zu gut, daß Willy und alle meine Leute einen förmlichen Narren an Dir gefressen haben – und ich dazu!“

Hartmut jubelte laut auf bei den letzten Worten und küßte ihr mit ungestümer Dankbarkeit die Hand, dann wandte er sich zu seinem Freunde, der nun glücklich auch das allerletzte Butterbrot bewältigt hatte und in stiller Verwunderung die Scene mit ansah.

„Bist Du nun endlich mit Deinem Frühstück fertig, Willy? Komm, wir wollen ja nach dem Burgsdorfer Weiher – so sei doch nicht so entsetzlich langsam und bedächtig! Leb’ wohl, Tante Regine, dem Onkel Wallmoden ist es gar nicht recht, daß Du mich begnadigst, ich sehe es. Hurrah, jetzt geht es in den Wald hinaus!“

Und fort stürmte er, über die Terrasse in den Garten hinunter. Es lag eine überschäumende Jugendlust und Jugendkraft in dieser Unbändigkeit, die etwas hinreißend Liebenswürdiges hatte. Der ganze Knabe war Feuer und Leben. Willy trottete wie ein junger Bär ihm nach und schon in den nächsten Minuten verschwanden sie hinter den Bäumen.

„Das kommt und geht wie ein Sturmwind!“ sagte Frau von Eschenhagen ihnen nachblickend. „Der Junge ist nicht zu halten, wenn man ihm einmal den Zügel schießen läßt.“

„Ein gefährlicher Bursche!“ meinte Wallmoden. „Sogar Dich versteht er zu regieren und Du pflegst doch sonst das Regiment allein zu führen. Es ist meines Wissens das erstemal, daß Du Ungehorsam und Unpünktlichkeit verzeihst.“

„Ja, der Hartmut hat etwas an sich, was die Menschen förmlich behext!“ rief Frau Regine, halb ärgerlich über ihre Nachgiebigkeit. „Wenn er einen so anguckt mit den schwarzen Gluthaugen und dazu bettelt und schmeichelt, dann möchte ich den sehen, der ihm nein sagt. Du hast recht, es ist ein gefährlicher Bursche.“

„Jawohl, doch lassen wir jetzt Hartmut beiseite, es handelt sich um die Erziehung Deines eigenen Sohnes. Du bist also wirklich entschlossen –“

„Ihn hier zu behalten. Gieb Dir keine Mühe, Herbert; Du magst ein großmächtiger Diplomat sein und die ganze Politik in der Tasche haben, aber meinen Jungen gebe ich Dir nicht heraus, der gehört mir ganz allein und den behalte ich – Punktum!“

Ein kräftiger Schlag auf den Tisch begleitete dies „Punktum“. Damit stand die regierende Herrin von Burgsdorf auf und ging zur Thür hinaus, ihr Bruder aber zuckte die Achseln und sagte halblaut: „So mag er denn meinetwegen ein Krautjunker werden – es wird wohl auch das beste sein.“ –

Hartmut und Willibald hatten inzwischen den ziemlich umfangreichen Forst erreicht, der zum Gut gehörte. Der Burgsdorfer Weiher, ein einsames, schilfumkränztes Gewässer mitten im Walde, lag in der stillen Vormittagsstunde regungslos und sonnenbeglänzt da. Der junge Majoratsherr hatte sich einen schattigen Platz am Ufer ausgesucht und gab sich mit ebenso viel Ausdauer als Behaglichkeit dem interessanten Geschäft des Angelns hin, während der ungeduldige Hartmut in der Nähe umherstreifte, hier einen Vogel aufjagte, dort Schilf und Blumen abriß und endlich Turnübungen auf einem Baumstamme anstellte, der halb im Wasser lag.

„Kannst Du denn niemals ruhig an einem Orte bleiben, Du verjagst mir ja die Fische.“ sagte Willy mißvergnügt. „Ich habe heute noch gar nichts gefangen.“

„Wie kannst Du nur stundenlang so auf einem Fleck sitzen und auf die dummen Fische warten!“ spottete Hartmut. „Freilich, Du darfst das ganze Jahr durch Wald und Feld streifen, wenn Du Lust dazu hast, Du bist ja frei! frei!“

„Bist Du etwa gefangen?“ fragte Willy. „Du und Deine Kameraden, Ihr seid ja täglich im Freien.“

„Aber nie allein, nie ohne Zwang und Aufsicht. Wir sind ja immer und ewig im Dienst, selbst in den Erholungsstunden. O, wie ich ihn hasse, diesen Dienst und dies ganze Sklavenleben!“

„Aber Hartmut, wenn das Dein Vater hörte!“

„Dann würde er mich wieder strafen wie gewöhnlich. Er hat ja für mich nichts als Strenge und Strafen, meinetwegen – es geht in einem hin!“

Er warf sich der Länge nach ins Gras, aber so herb und übermüthig seine Worte auch klangen, es bebte etwas darin wie eine schmerzliche, leidenschaftliche Klage. Der junge Majoratsherr schüttelte nur bedächtig den Kopf, während er eine neue Lockspeise an seiner Angel befestigte, und einige Minuten lang herrschte vollständiges Schweigen.

Da plötzlich stieß etwas nieder aus der Höhe, dunkel, blitzschnell, das eben noch so regungslose Gewässer spritzte und schäumte auf und im nächsten Augenblick hob sich ein Reiher hoch in die Lüfte empor, die zappelnde, silberglänzende Beute im Schnabel.

„Bravo, das war ein guter Stoß!“ rief Hartmut auffahrend, Willy aber schalt ärgerlich:

„Der verwünschte Räuber plündert uns den ganzen Weiher! Ich werde mit dem Förster sprechen, der soll ihn einmal aufs Korn nehmen.“

„Ein Räuber?“ wiederholte Hartmut, während sein Blick dem Reiher folgte, der jetzt hinter den Baumwipfeln verschwand. „Ja freilich! Aber es muß schön sein, solch ein freies Räuberleben, hoch oben in den Lüften. So aus der Höhe niederfahren wie ein Blitz, die Beute packen, mit sich fortreißen und dann hinauf mit ihr, wo niemand folgen kann, das lohnt die Jagd!“

„Hartmut, ich glaube wahrhaftig, Du hättest Lust zu einem solchen Räuberleben,“ sagte Willy mit dem ganzen Entsetzen eines wohlerzogenen Sohnes über solche Gelüste. Sein Gefährte lachte, aber es war wieder jenes herbe, seltsame Lachen, das so gar nichts Jugendliches hatte.

„Und wenn ich sie hätte, dann würde man sie mir im Kadettenhause schon austreiben! Da ist ja der Gehorsam, die Disziplin das A und O von allem, schließlich lernt man es doch! – Willy, hast Du nie gewünscht, Flügel zu haben?“

„Ich? Flügel?“ fragte Willy, dessen ganze Aufmerksamkeit wieder auf die Angelschnur gerichtet war. „Unsinn! Wer wird sich Unmögliches wünschen!“

„Ich wollte, ich hätte sie!“ rief Hartmut aufflammend. „Ich wollte, ich wäre einer von den Falken, von denen wir den Namen führen. Dann stiege ich hoch empor, in die blaue Luft, immer höher, der Sonne entgegen, und käme nie, niemals wieder zurück!“

„Ich glaube, Du bist verrückt,“ sagte der junge Majoratsherr gleichmüthig. „Aber nun habe ich wieder nichts gefangen, der Fisch will heute durchaus nicht anbeißen, ich muß es einmal an einer andern Stelle versuchen.“

Damit nahm er seine Angelgeräthschaften und ging hinüber nach der andern Seite des Weihers, während Hartmut sich wieder auf den Boden warf. Wer konnte auch von dem braven Willy verlangen, daß er sich mit dem Gedanken an Fliegen abgebe!

Es war einer jener Herbsttage, die für wenige kurze Mittagstunden den Frühling zurück zu zaubern scheinen. Der Sonnenschein war so golden, die Luft so mild, der Wald so frisch und duftig. Auf dem leuchtenden kleinen Gewässer tanzten Tausende von strahlenden Funken und leise und geheimnißvoll flüsterte das Schilf, wenn ein Windhauch darüber hinstrich.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_007.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)