Seite:Die Gartenlaube (1890) 151.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

}stellte die Bilder kriegerischen und friedlichen Lebens einander gegenüber. Alles Blut, das flösse, flösse zum Unheil, und nur einmal sei Blut zum Heil geflossen, freilich nicht zum Heile derer, die’s vergossen, wohl aber zum Heile der Menschheit, um deretwillen es floß. Alles andere Blutvergießen aber sei Sünde, zumeist wenn es flösse der Rache des einzelnen zu Liebe. Das führe zu sicherem Untergang und Verderben. Aber auch der große Krieg sei Sünde, auch das Blutvergießen um Land und Herrscher und selbst um des Glaubens und der Freiheit willen. Und so hab’ er denn auch in diesem gesegneten Lande den Krieg beklagt, den Nord und Süd um die Frage der Befreiung ihrer schwarzen Brüder geführt hätten, so sehr er dieser Befreiung selbst entgegengejubelt habe, Fortschritt und Freiheit sollten freilich ihren Einzug halten in die Welt, aber auf einer Palmenstraße, nicht auf einer Straße, da die Kriegsknechte zu beiden Seiten am Wege stehen. Absage dem Krieg, das sei die Lehre der Taufgesinnten. „Und so höret denn zum Schluß: Uebermuth macht Krieg, Demuth macht Frieden. Und der Frieden im Gemüth ist das Glück und die Vorbereitung zum ewigen Heil. Selig sind die Friedfertigen, selig sind, die reines Herzens sind. Die Rache ist mein, spricht der Herr.“

Obadja schwieg jetzt, und im Augenblick, als er die Stufen verließ, klangen von der Mittelempore her die Töne eines Chorals.

Es war Ruth, deren Stimme mit wunderbarer Klarheit durch den Saal drang, während die jungen sie umstehenden Mädchen die Palmenzweige, die sie in ihren Händen trugen, immer Höher über ihr emporhielten. Lehnert sah hinauf, zitternd vor innerster Bewegung, und wollte die Friedensstätte meiden, die seine Stätte nicht mehr war. Aber eh’ er sich erheben konnte, da war der letzte Vers zu Ende und Ruth trat, fast verdeckt von den über sie gehaltenen Zweigen, in den Hintergrund der Empore zurück.

L’Hermite, der trotz seiner abweichenden Ansichten dieser Feier mit großem Eifer folgte, wurde nicht müde, stille Zeichen des Beifalls zu geben und huldigend hinauf zu grüßen, aber ehe er noch einen Gegengruß eintauschen konnte, vernahm er unmittelbar neben sich einen schweren Fall und sah, sich wendend, daß Lehnert, wie vom Schlage getroffen, zusammengebrochen war.

Alles drängte herzu, Marnschka und Toby und zuletzt auch Obadja und Ruth.

„Er ist todt.“

„Nein, erlebt,“ sagte Ruth im festen Glauben ihres Herzens.

Und ihr Auge leuchtete, als sie so sprach.

Am andern Tage aber wurde Lehnert, nach voraufgegangener Beichte, selbst in die Gemeinde der Taufgesinnten ausgenommen.

* * *

Tobias und Ruth hatten von Anfang an eine Liebe zu Lehnert gehabt, die sich jetzt, nachdem er ein Mitglied der Gemeinde geworden war, unbefangener zeigen durfte, was dann selbstverständlich auch das Vertrauen auf Lehnerts Seite steigerte, so weit, daß es allmählich zur Vertraulichkeit wurde. L’Hermite, ganz unkleinlich und jedenfalls frei von jeder Eifersuchtsregung, hatte seine Freude daran, und so begann denn bei beiden ein Wetteifer nicht nur in ihrer Liebe zu den Geschwistern, sondern auch in der Erfüllung aller Wünsche, die Ruth und Toby hegten. Ja, die beiden sonderbaren Schwärmer, von denen der eine den Erzbischof von Paris und der andere den Förster Opitz auf dem Gewissen hatte, kannten nichts Schöneres, als für Miß Ruth zu denken und zu arbeiten, und fühlten sich belohnt, wenn sie lachte, nickte, dankte.

Der gemeinsamen Abende Lehnerts und L’Hermites wurden in natürlicher Folge davon immer weniger und an ihre Stelle traten Familienabende, zu deren Abhaltung man sich auf Ruths Zimmer versammelte. L’Hermite, so sehr er sich dieser Abende freute, kam freilich seinerseits nur selten und immer nur auf besondere Aufforderung, desto häufiger aber stieg der Alte die Treppe hinauf und mit herzlicher Genugthuung erzählten alsbald die Kinder, daß der Vater, seit der Mutter Tode, kaum jemals in ihrer Mitte so fröhlich und guter Dinge gewesen sei wie gerade jetzt.

Musikabende wechselten mit Leseabenden, und an einem der letzteren kam Pestalozzis „Lienhardt und Gertrud“ an die Reihe. Die Geschichte zog bald Alt und Jung ins Interesse, voran in lebhafter Theilnahme stand aber Lehnert, vielleicht weil er aus vielem, was da erzählt wurde, seine eigene Lebensgeschichte heraushörte. Lienhardt, das war er selbst, und der böse Vogt, der den armen Lienhardt quält und zum Schlechten verführt, das war Opitz. Er wollte immer mehr hören und war beinahe mißgestimmt, als man auf Obadjas Geheiß plötzlich abbrach und die Vorlesung bis auf den andern Abend vertagte. Wenigstens das nächste Kapitel, das sich „Niedriger Eigennutz“ betitelte, hätt’ er gern noch kennen gelernt, und so nahm er denn, als man sich bald danach zurückzog, das von Ruth auf einen Ecktisch gelegte Buch zur Befriedigung seiner Neugier mit in sein Zimmer hinüber und las bis Mitternacht. Dann schritt er noch eine Zeitlang auf und ab, um seiner Aufregung Herr zu werden, und öffnete dabei das Fenster und lehnte hinaus und sah nach dem in klaren Umrissen daliegenden Gebirge hinüber. Darüber flimmerten die Sterne. Ihm war es, als erblick’ er die Leiter, von der L’Hermite, in jener Mond- und Spuknacht gesprochen hatte, nur mit dem Unterschiede, daß er statt ihn ängstigender Schatten Engel und Lichtgestalten auf- und niedersteigen sah. Und nun schloß er das Fenster wieder und sah Ruth, wie sie drüben in halber Beleuchtung gesessen und in den Lesepausen des Vaters Hand gestreichelt hatte.

„Ja, wer so geboren wird, wen das Leben so wiegt und trägt . . . Armer Mensch, ich, arm und elend und verloren, wenn Gott nicht ein Wunder thut . . . Aber wie’s auch komme, doch gut, daß ich das alles noch erlebt . . . Und wenn er ein Wunder thäte! Hah’ ich es verwirkt? Ist ein Wunder unmöglich? Nie, sonst wär’ es kein Wunder.“

Und er lebte sich in diese Vorstellung ein und legte sich’s zurecht und sah wieder heiter in die Zukunft. Unklare, verschwimmende Bilder von Besitz und Glück und Ruhe stiegen vor ihm auf.


21.

So verstrich die Zeit bis Weihnachten, und ehe man sich’s versah, war der heilige Abend da. Die Bescherung für die Hausgenossen Obadjas und für die Mennonitenkinder war vorüber, und unter den Klängen von Obadjas Lieblingslied

„Valet will ich Dir geben.
Du arge falsche Welt“

waren die Kinder mit den Lehrern hinausgezogen aus der großen Halle, sich in die benachbarten Farmen zu vertheilen, wo sie für die Nacht Unterkommen finden sollten. Die Hausangehörigen blieben noch beisammen, in traulichem Gespräche um den Kamin gruppirt.

„Hast Du das Lied gekannt, das die Kinder sangen?“ fragte Obadja, zu Lehnert gewendet.

Ja, sagte Lehnert, er hab’ es gekannt, denn es habe dem Liederschätze seiner heimathlichen Dorfkirche mit angehört.

„Dann weißt Du auch wohl, von wem es ist?“

„Nein.“

„Aber das solltest Du doch. Es ist ein Landsmann von Dir, der es gedichtet hat, er hieß Valerius Herberger. Ihr Schlesier seid überhaupt bevorzugt in solchen Stücken, und ich möchte wohl, ich könnte von meiner alten heimischen Weichsel- und Nogatgegend dasselbe sagen. Wir sind arm und Ihr seid reich. Da habt Ihr den herrlichen Mann, den Zinzendorf, denn die Sachsen und Lausitzer sind schon wie halbe Schlesier, und da habt Ihr den herrlichen Paul Flemming und vor allem auch den Opitz.“

Lehnert verfärbte sich.

Als er aber sah, daß der Name voll Unbefangenheit gesprochen worden war, kam er rasch wieder zu sich und folgte mit scharfem Ohr, während Obadja fortfuhr: „Und zu diesen Erwählten unter Euch, die nun dastehen als eine Säule der neuen Kirche, zählt auch der Valerius Herberger, und wie sein Glaube in seinen Liedern lebt, so lebt er auch in seinen Werken. Und ich beuge mich vor diesem Manne. Kein Märtyrer, im Sinne der alten Kirche, hat er doch dem Tode Tag um Tag ins Auge gesehen. Er war Prediger in Fraustadt in Schlesien und in neun Wochen starb die Stadt aus, denn der schwarze Tod ging in ihr um. Mehr als dreihundert hat er persönlich unter Schulgesang mit bestatten helfen und doch blieb er bis zu Ende ohne Furcht. Manche Leiche begrub er mit dem Todtengräber ganz allein. Er ging voran und sang; der Todtengräber aber führte ihm die Leiche auf einem Karren nach, an dem ein Glöckchen hing, damit die Leute der Begegnung ausweichen konnten. Sein Trost war: wer Gott im Herzen und ein gut Gebet und’ einen ordentlichen Beruf hat und den Vorwitz meidet, dem kann der Teufel nicht ankommen und die Seuche noch weniger.“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_151.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)