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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Eisenplatten von 12 mm Stärke! So erfüllt das Kleinkalibergewehr in ungeahnter Weise die höchsten Anforderungen, die man an ein Kriegsgewehr stellt; es macht auf die weitesten Entfernungen Mann und Pferd des Feindes kampfunfähig, ist aus der Nähe selbst imstande, seine Lokomotiven zu zerstören, seine Truppen- und Proviantzüge lahmzulegen, und so darf man nicht zweifeln, daß in kürzerer Zeit alle europäischen Heere mit diesem Gewehr ausgerüstet sein werden.

Verschiedene Geschoßkaliber.
Fig. 1. Minié. Fig. 2. Zündnadel. Fig. 3. Chassepot. Fig. 4. Deutsches Infanterie-Gewehr 71.84. Fig. 5. Belgisches Mausergewehr.

Der Arzt, der berufen ist, die Wunden, die in den Schlachten geschlagen werden, zu heilen, verfolgt mit ernstem Fleiß die Vervollkommnung der Feuerwaffen. Die Todten, die, wie man sagt, „mitten durchs Herz geschossen“ auf der Wahlstatt liegen bleiben, kann er nicht wieder erwecken, aber er setzt alle seine Kräfte ein, den Verwundeten, deren Zahl ja immer eine weit größere als die der Gefallenen ist, zu helfen. Dank den Fortschritten der Kriegschirurgie sind in dieser Hinsicht die Schrecken des Krieges vielfach gemildert worden. Der Arzt unterscheidet auch zwischen humanen und barbarischen Waffen und er erachtet es für seine Pflicht, gegen letztere Einsprache zu erheben, damit sie auf völkerrechtlichem Wege verboten werden, wie dies z. B. bei Explosionsgeschossen der Handfeuerwaffen seit mehr als zwanzig Jahren der Fall ist. Der Arzt unterscheidet zwischen leichter und schwerer heilenden Wunden, er weiß aus Erfahrung, daß die eine Waffenart diese, die andere jene erzeugt, und so prüft er auch die Wirkung der neuen Gewehre von seinem Standpunkte, ob sie dem Wunsch entsprechen, daß aus dem künftigen Kriege mehr geheilte Verwundete und unter den Geheilten weniger Krüppel sich befinden.

Fig. 6. Ende des Schußkanals eines kleinkalibrigen Nickelmantelgeschosses in trockenem Buchenholz.

In diesem Sinne wurden die Kleinkalibergewehre von den Aerzten verschiedener Nationen geprüft und alle gelangten dabei zu der Ueberzeugung, daß die neue Infanteriewaffe humaner ist als die alten. Bei diesen Prüfungen wurden so wichtige Aufschlüsse über die Wirkung der Geschosse gewonnen, daß auch ein weiterer Leserkreis die Erörterung dieser Fragen mit Interesse verfolgen dürfte. Und so wollen wir an der Hand der Ausführungen, die Prof. Dr. Paul Bruns in Tübingen in seinem kürzlich erschienenen Werke „Die Geschoßwirkung der neuen Kleinkaliber-Gewehre“ (Tübingen, Verlag der Lauppschen Buchhandlung) gegeben hat, auf einige der wichtigsten Punkte näher eingehen. – Fünf Jahrhunderte lang hatte man sich im Kriege damit begnügt, aus glatten Rohren Rundkugeln zu schleudern. Erst in der Mitte unseres Jahrhunderts führte man gezogene Gewehre und Spitzkugeln ein. Diese Spitzkugeln erhielten ein Kaliber von 17 bis 18 mm und ein Gewicht von 40 bis 50 g (Fig. 1). Dies war ein Fortschritt in der Kriegstechnik, denn die gezogenen Gewehre trugen weiter, die Treffsicherheit bei ihrem Gebrauch war größer und die Durchschlagskraft ihrer Geschosse eine bedeutendere. Als aber diese Gewehre als Minié-Gewehre zum erstenmal im Krimkriege verwendet wurden, da waren die Aerzte erstaunt über die erschreckende Wirkung der neuen Waffen: über die Ausdehnung und Schwere der Verwundungen, namentlich über den früher unerhörten Umfang der Knochenzersplitterung. Mit der Zeit wurde das Kaliber der Infanteriewaffen herabgesetzt. Das Langblei des preußischen Zündnadelgewehres (vergl. die Patrone Fig. 2) besaß ein Kaliber von 13,6 mm und ein Gewicht von 31 g; bei dem französischen Chassepotgewehre (Fig. 3) wurde das Kaliber auf 11 mm, das Gewicht des Geschosses auf 25 g herabgesetzt. In dem großen Kriege 1870 und 1871 erwies sich das Chassepotgewehr besser als das deutsche, und so wurden in wenigen Jahren die Infanteriewaffen aller europäischen Mächte nach diesem System verbessert; alle führten Gewehre mit länglichen cylindrischen, spitzbogenförmigen (cylindro-ogivalen) Geschossen ein, deren Kaliber 11 mm, deren Gewicht 25 g betrug, Gewehre, die eine Tragweite von etwa 2500 m besaßen und mit denen man noch auf eine Entfernung von 2000 m Mann und Pferd außer Gefecht setzen konnte.

Fig. 7. Schußkanal von 11 mm-Weichbleigeschoß in trockenem Buchenholz.

Dieser Entwickelungsstufe gehört auch das deutsche Infanterie-Gewehr 71.84 (Patrone Fig. 4) an. Zuletzt wurde das Kaliber anscheinend auf die äußerste für Kriegszwecke zulässige Grenze herabgesetzt. Das französische Lebelgewehr besitzt ein Kaliber von 8 mm; das Geschoß ist 31 mm lang und nur 14 g schwer. Dasselbe Kaliber besitzt das österreichische Mannlicher-Gewehr,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 160. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_160.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)