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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Mitternachtssonne ein Loch in den Hut brennen zu lassen. Andere schreiben eine Postkarte nach Hause „beim Schein der Mitternachtssonne“. Ein Dritter telegraphirt im nächsten Hafen: „Unvergleichliches Bild der Mitternachtssonne!“ Wer die ganze Fahrt bis zum Nordkap oder gar bis Vadsö macht, wird seine Ausdauer wohl belohnt finden: im ganzen darf man auf die Mitternachtssonne und gar auf einen vollen wolkenfreien Anblick nicht rechnen, am wenigsten am Nordkap selbst. Aber unauslöschlich steht vor meinem Blick das Bild, als wir nach dem nächtlichen Besuche des Lappenlagers bei Tromsö, bald nach Mitternacht, an den Tromsösund gelangten und nun mit einem Male die Strahlen der Sonne unser Auge trafen. In dem Thale, neben dem Gletscherbache, war es bitter kalt gewesen; aus den Sümpfen des niedrigen Birkenwaldes stieg der Nebel; hoch oben leuchteten die Schneefelder des Istinden; plötzlich belebende Sonnenwärme, ungeheure Lichtfluth und eine überirdische Farbenpracht! Im Winter herrscht hier dafür eine dreimonatige Nacht. Die Natur nimmt immer gerade so viel, als sie giebt. Darum schläft hier auch in den drei Sommermonaten eigentlich niemand; man schlummert höchstens. „Wir haben im Winter Zeit genug zum Schlafen,“ sagen die Leute; und so schwärmt man die ganze halbe Nacht hindurch, Wald und Berg klingen wieder von frohen Liedern. Man versteht den Charakter des Norwegers, sein starkes Phantasieleben, seine Thatkraft gemischt mit Eigensinn, sein kindliches Gemüth, sein tolles Wagen erst dann, wenn man diese Natur kennen lernt. Unübertroffen hat diese Menschen und diese Natur Jonas Lie geschildert in seinen Nordlandsgeschichten, nicht weniger Björnson in seinen Bauernnovellen und Ibsen im „Peer Gynt“.

Hammerfest, die „nördlichste Stadt“, mit dem „nördlichsten Walde“ der bewohnten Erde, ist das rechte Vergnügungsziel der Lappen, welche gern hierher kommen und branntweinberauscht durch die von Fischgeruch erfüllten Straßen taumeln. An schönen Sommertagen machen die Hammerfester oft eine Fahrt mit einem Dampfboot entweder weit hinein in das Eismeer oder nach dem Altenfjord, den uns Leopold von Buch schon vor achtzig Jahren so schön geschildert hat, oder in den erhabenen Lyngenfjord, dessen Gletscher (wie beim Svartisen) beinahe die Meeresfläche erreichen. Unvergleichlich ist der Blick von der kleinen Insel Kagö, von deren Höhe ein Gletscher „in Gestalt einer Thräne“ niederhängt, südlich in die Tiefe des Lyngenfjordes mit den zweitausend Meter hohen Alpen und der ganzen Reihe seiner Gletscher. Nordwärts aber geht der Blick in das Eismeer, wo die „Vogelinsel“ gleich einem nordischen Capri aufstarrt, eisbedeckt und von unzähligen Vogelscharen bewohnt. Alles das erblicken die Hammerfester auf ihren „Lusttouren“. Ist aber zufällig ein Brautpaar an Bord, so wird das ganze Schiff mit Birkenzweigen geschmückt, daß es aussieht, als fahre die Liebesgöttin selbst spazieren in einer großen, duftenden Laube.

Von Hammerfest ist mit dem Dampfboot in wenigen Stunden das Nordkap erreicht, jenes Vorgebirge, das sich mit seinen schneegefüllten Schluchten im schwarzen Schiefer weit hinaus in das Eismeer streckt „wie ein Keil“. Ein großer Anblick, dessen sich jeder glücklich preisen sollte, der ihn haben durfte. Es ist die nördlichste Spitze der Kvalö („Walfischinsel“), vom europäischen Festlande getrennt durch den gleichnamigen Sund. Eigentlich ragt eine niedrige Felsbank, die Knivskjärodde („Messerschärspitze“), noch ein Stückchen weiter hinaus in das Meer, aber dem fast tausend Fuß hohen Kap gebührt und bleibt doch nun einmal der Vorrang und der Ruhm, die nördlichste Spitze Europas zu sein, schon von der Zeit an, als der „alte Seekapitän“ Other es auf den Befehl Alfreds des Großen vor mehr als tausend Jahren umschiffte und jene Beschreibung lieferte, welche der König staunend vernahm. Seitdem ist nur noch ein dänischer König um das Nordkap gefahren, dann König Oskar II. und als dritter der Deutsche Kaiser Wilhelm II. am 18. Juli 1889.

„Sechzehn Masten sah ich fern
Kommen um das Riff;
Vilhjalm des Deutschen Flagge weht
Hoch von jedem Schiff – “

heißt es in einer altisländischen Volksballade.

Eine Reihe von Reisenden und Gelehrten hat auf dem Nordkap gestanden, so schwer es früher auch war, dasselbe zu erreichen. Leopold von Buch mußte sich mit seinem Anblick aus der Ferne begnügen; aber der Italiener Acerbi schrieb am Ende des vorigen Jahrhunderts ein herrliches Gedicht, welches auf der Spitze des Kaps in den Fels gegraben werden sollte. Dafür steht jetzt oben ein Obelisk und seine Inschrift erinnert an den Besuch König Oskars.

Heutzutage steigen Hunderte von Reisenden hinauf zu dem Schieferplateau, trinken die eine und andere Flasche Schaumweins und lassen ihren betreffenden Landesvater leben, oder die – Mitternachtssonne, oder das – Nebelwetter, welches so oft diese sturmgepeitschte Höhe umzieht.

Sie wissen nicht, daß kein Anblick erhabener ist, als durch diesen Nebelschleier auf das tosende Meer herniederzuschauen, dessen Wogen an den herabgestürzten, ungeheuren Blöcken zerschellen. Wie der Ausschnitt einer Kugel erscheint es von hier oben gesehen; man versteht, warum die alten Seefahrer meinten, es gehe von hier nach Norden immer weiter hinab in eine unbekannte Tiefe. „Starr und fast bewegungslos“ nennt Tacitus dieses Meer, „Saum und äußerste Zone des Erdkreises; über ihm gehe die Sonne nicht unter, weil ihr letzter Glanz sich bis zu ihrem Aufgange erhalte. Der Volksglaube,“ so sagt er weiter, „wolle beim Auftauchen der Sonne einen Klang vernehmen, Göttergestalten und ein strahlenumgebenes Haupt erblicken. Dort stehe, und die Sage habe recht, der Grenzstein der Schöpfung.“




Quitt.

Roman von Theodor Fontane.
(Schluß.)
24.

Lehnert war, als er nach L’Hermites Worten in sein Zimmer zurückkehrte, wie vom Blitz getroffen, doppelt, weil er sich wenn auch mit Widerstreben gestand, aus dem Munde L’Hermites nur das gehört zu haben, was ihm eine innere Stimme selber schon zugerufen hatte. Was unheimlich seinen Freund umschlich, umschlich auch ihn, immer wieder war es da. Warum war er so miterschüttert gewesen, als der mit dem Kreuz auf der Brust in jener Nacht bei L’Hermite ins Fenster gesehen hatte, und warum lag da wer am Weg, als er am Tage danach von Fort O’Brien aus zum ersten Mal ins Gebirge hinaufritt? Sinnestäuschung? Nein. Gewissen! Es half nicht Reue, nicht Beichte; was geschehen war, war geschehen, und im selben Augenblicke, wo nur noch ein Schritt, ein einziger, ihn von seinem Glücke zu trennen schien, sah er, daß dieser Schritt ein Abgrund war.

Er konnte keine Ruhe finden und zermarterte sein Gehirn mit dem, was kommen müsse. So verging ihm die Nacht und erst gegen Morgen schlief er ein.

Nicht lange schlief er. Aber so kurz der Schlaf gewesen war, so war es doch, als wären ihm Kraft und Muth zu gutem Theile zurückgekehrt, und als er das Fenster aufstieß und Frühlingsluft und Morgensonne hereindrangen, lösten sich die Vorstellungen, die sich während der Nacht, als wären es Gespenster, seiner Seele bemächtigt hatten, auf wie die Nebel, die drüben am Gebirge hinzogen. Eine Schuld lag auf ihm: aber hieß es nicht in dem Gebet, das Christus selbst uns gelehrt, „und vergieb uns unsere Schuld“? Und wenn Christus so gelehrt und geboten hatte, so mußte doch auch eine Möglichkeit der Erhörung sein und bei rechter Demuth und Zerknirschung auch wohl eine Gewißheit. So sann er weiter, und als er sich’s zurecht gelegt und bei der Morgenandacht das Auge des Alten so fest und freundlich wie nur je zuvor auf sich ruhen gefühlt hatte, war alles, womit L’Hermite ihn – und was schwerer war, er sich selber – geängstigt hatte, besiegt und verschwunden.

L’Hermite, der wohl sah, was in der Seele seines Freundes vorging, vermied es, auf seine düstere Prophezeiung zurückzukommen, ja er schlug umgekehrt, als sie wieder einmal bei einander saßen, einen halb heiteren Ton an, der darauf aus war, die Wirkung seiner Worte wieder abzuschwächen. Und so gut Lehnert einsah, daß das alles nur geschah, um ihn zu beruhigen, so trug es trotzdem nicht wenig dazu bei, seine Hoffnungen neu zu beleben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 180. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_180.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)