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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

beleibteren Träger angefertigt worden. – Mit leicht gesenktem Kopfe, über dessen Stirn der weiche, breitrandige Filzhut tief herabgezogen war, wand sich der Mann durch den Menschenstrom. Sicherlich war von all den Tausenden kaum ein einziger so ängstlich wie er darauf bedacht, den Entgegenkommenden aus dem Wege zu gehen und jede unsanfte Berührung mit einem von ihnen zu vermeiden. Nicht auf seiner Seite konnte deshalb das Verschulden liegen, als ein vierschrötiger, gefährlich aussehender Bursche mit hoher, weit auf den Hinterkopf zurückgeschobener Stoffmütze breit und wuchtig gegen seinen gebrechlichen Körper prallte. Der Gestoßene taumelte um ein Stück zurück, und ein leiser Ausruf des Schmerzes oder des Schreckens kam von seinen Lippen. Der andere aber, der den kleinen Unfall anscheinend absichtlich herbeigeführt hatte, faßte den Griff seines derben Knotenstockes fester und pflanzte sich in drohender Haltung vor seinem Opfer auf.

„Was haben Sie gesagt?“ herrschte er ihn an, und seine stieren, vom Glänz des Branntweins erfüllten Augen weissagten nichts Gutes. „Wollen Sie etwa schimpfen?“

Die zunächst Befindlichen blieben stehen, und innerhalb einer einzigen Sekunde hatte sich ein dichter Kreis um die beiden geschlossen. Einzelne Rufe wurden laut, die sehr unzweideutig verriethen, daß die Stimmung der Zuschauer eine für den Burschen mit der Mütze wenig günstige sei und daß der andere auf den nachdrücklichen Beistand der Menge rechnen könne, wenn er die Frechheit des Raufbolds gebührend zurückwies.

Aber es hatte nicht den Anschein, als ob der greisenhafte Jüngling sich dadurch ermuthigt fühlte. Mit einem Ausdruck namenloser Angst irrten seine Augen an der lebendigen Hecke dahin, die so plötzlich um ihn her emporgewachsen war, und seine Gestalt fiel noch mehr in sich zusammen, während er sich mit zitternder Hast gegen seinen Angreifer wandte:

„Ich habe gar nichts gesagt – nicht ein einziges Wort. Und ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Sie belästigt habe. Es – es ist gewiß nicht mit Absicht geschehen.“

„Hasenfuß!“ rief in verächtlichem Ton einer aus der Menge, und spöttisches Gelächter folgte der allzu bereitwilligen Entschuldigung. Der Bursche mit der Mütze schaute triumphirend umher, klemmte seinen Knotenstock wieder unter den Arm und brach sich, einige unfläthige Worte vor sich hin brummend, rücksichtslos Bahn durch die Menge. Der andere aber war in dem nämlichen Augenblick, in welchem die Gasse sich geöffnet hatte, verschwunden, als ob die Erde ihn verschlungen hätte.

Wie ein Verfolgter schlüpfte er, dicht an die Mauern der Häuser gedrückt, durch die volkreiche Straße weiter. In seinem Gesicht zuckte es seltsam, und seine Fäuste hatten sich krampfhaft geballt; aber seine Haltung war scheu und gedrückt wie zuvor, und sein Kopf war so tief zwischen die Schultern gezogen, als hätte er sich am liebsten völlig unsichtbar gemacht vor allen zudringlichen und neugierigen Blicken.

In eine der letzten Seitenstraßen vor dem Belle-Allianceplatze bog er ein, und hier verlangsamte sich um ein Geringes die Hast seiner Schritte. Die Häuser waren da zum größten Theil alt und unansehnlich; nur in wenigen von ihnen hatte man die Gepflogenheit der vornehmeren Städttheile nachgeahmt, die Straßenthür verschlossen zu halten, und fast überall war darum der Einblick in die dunklen, wenig einladenden Höfe freigegeben.

In einen dieser weitgeöffneten Thorwege spähte der Mann so vorsichtig hinein, als gehörte es zu den wahrscheinlichsten Dingen, daß sich dort Diebe und Meuchelmörder versteckt hielten. Aber es war nichts da als ein kleiner dicker Bäckerlehrling mit nackten Armen und mit mehlbestäubten Pantoffeln an den bloßen Füßen, der pfeifend auf- und niederging. Der Mann auf der Straße blieb eine Weile unschlüssig im Schatten der Mauer stehen; dann aber, da der Bäckerbursche durchaus nicht Miene machte, seinen Posten zu verlassen, huschte er rasch hinein und eilte an dem jungen Menschen vorbei die Treppe hinauf. Sein Athem ging schnell von der Anstrengung des hastigen Steigens, als er auf dem Flur des dritten Stockwerks stehen blieb. Er lüftete den Hut und wischte sich den Schweiß ab, der in dicken Tropfen auf seiner hohen, schmalen Stirn perlte. Es war das Gebahren eines Menschen, welcher das Bewußtsein hat, soeben einer furchtbaren Gefahr mit genauer Noth entronnen zu sein.

Unter dem Griff des Glockenzuges im dritten Stock war eine ganze Reihe von Visitenkarten befestigt; die Glasthür aber war unverschlossen. Sie öffnete sich auf einen langen, halbdunkeln Gang, an dessen beiden Seiten man nur unbestimmt eine Anzahl von Thüren erkennen konnte. Behutsam tastete sich der Mann bis zu der letzten derselben hin und öffnete sie mit einem aus der Tasche gezogenen Schlüssel. Ein schmales, enges Zimmerchen, das nicht mehr als die nothwendigsten Einrichtungsgegenstände enthielt, nahm ihn auf. Wohl eine Viertelstunde lang blieb er wie in völliger Erschöpfung auf einem Stuhl im Finstern sitzen, ehe er sich dazu aufraffte, mit unsicheren Bewegungen die auf dem Tische stehende Kerze anzuzünden. Schreibgeräthe und einige Blätter weißen Papiers lagen daneben, und der Bewohner des Stübchens rückte sie zurecht, als wollte er bei dem unsicheren Licht des flackernden Kerzenflämmchens zu schreiben versuchen. Aber er legte die tintennasse Feder wieder hin, ohne einen Strich gethan zu haben. Die Erregung zitterte wohl noch zu heftig in seinen Nerven nach. Drei- oder viermal ging er in dem kleinen Raume auf und nieder; dann rückte er seinen schlechtsitzenden Halskragen zurecht, zupfte an dem schlotternden Rocke, ohne ihm damit freilich ein besseres Aussehen geben zu können, und ging nach sekundenlangem Zaudern auf den Fußspitzen hinaus und die Hälfte des finsteren Ganges zurück.

Sein Klopfen an die Thür, vor der er eine geraume Weile regungslos gestanden hatte, war in seiner Zaghaftigkeit kaum vernehmlich. Von drinnen aber klang sogleich eine jugendlich helle, wohltönende Frauenstimme:

„Wer ist da? – Sind Sie es, Herr Hudetz?“

„Ja, Fräulein von Brenckendorf, ich bin es!“ erwiderte er fast flüsternd. „Aber wenn ich Sie auch nur im geringsten störe –“

Ein Riegel wurde zurückgeschoben und ein Strom freundlich hellen Lampenlichtes fiel aus der geöffneten Thür auf die demüthige Gestalt des Einlaß Heischenden.

„Nein, Sie stören mich durchaus nicht. Treten Sie nur näher! Mein Tagewerk ist gethan, und ich kann mir’s wohl gönnen, eine halbe Stunde zu verplaudern.“

Die so mit gewinnender Liebenswürdigkeit zu dem scheuen Besucher gesprochen hatte, war eine junge Dame von höchstens zwanzig Jahren. Obwohl ihr Anzug nicht gerade fein zu nennen war, denn sie trug eine große graue Malschürze über dem einfachen Kleide, sah sie doch vornehm genug aus, um den Gegensatz zu ihrem Gaste noch auffälliger und wunderlicher hervortreten zu lassen. Ihre hohe, schlanke und bei aller jungfräulichen Zartheit prächtige Gestalt, ihr zierliches, mit reichem, lichtblondem Haar geschmücktes Köpfchen, auf dessen schönem Gesicht ein warm rosiger Hauch von Jugendfrische und lebensprühender Gesundheit lag, machten den andern neben ihr noch hundertmal armseliger und hinfälliger, als er vorhin im Gewühl der Straße erschienen war. Und die gebeugte Haltung seines hageren Körpers, die hastigen, anmuthlosen Bewegungen seiner langen Glieder nahmen sich ungeschickt und plebejisch aus neben ihrer ruhigen, anmuthigen Sicherheit, die in solcher Vollendung nur das Ergebniß eines Zusammenwirkens von natürlicher Anlage und vortrefflicher Erziehung sein konnte.

Sie hatte ihm unbefangen die schmale, weiche Hand zum Gruße geboten, und er nahm sie für einen Augenblick in die seine, die so abgezehrt und so brennend heiß war wie die eines Fieberkranken.

„Ich kann nicht arbeiten,“ sagte er, „ich glaube, es ist diese schreckliche Einsamkeit, die keinen vernünftigen Gedanken mehr in meinem Kopfe reifen läßt.“

Ohne ihre Einladung abzuwarten, hatte er sich auf den äußersten Rand eines Stuhles niedergelassen, der in der beschatteten Ecke neben dem Fenster stand. Es war, als ob er stets von einem unbewußten Verlangen geleitet werde, sich so klein und so unscheinbar zu machen, als die Umstände es nur immer erlaubten.

„Die Einsamkeit, Herr Hudetz?“ fragte lächelnd die junge Dame, welche er vorhin als Fräulein von Brenckendorf angeredet hatte. „Klagten Sie nicht erst vor kurzem darüber, daß Sie gezwungen wären, sich fast während des ganzen Tages unter den Menschen zu bewegen?“

Er strich sich das dunkle Haar aus der Stirn und sah mit einem leeren Blick vor sich hin.

„Unter den Menschen – das ist es ja eben! Ich fühle meine Vereinsamung nirgends so tief als gerade da. Haben nicht alle diese Leute tausendfältige Beziehungen unter einander in Freundschaft und Feindschaft, in Liebe und Haß? Ist nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_198.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)