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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Es ist möglich, daß er es für einen unauslöschlichen Schandfleck auf dem Brenckendorfschen Ehrenschilde hielte. Aber er ist todt, Marie, und mein Gewissen spricht mich von dem Vorwurf der unkindlichen Lieblosigkeit vollständig frei. Wenn unser trefflicher Vater aus irgend einer besseren Welt auf uns herabzuschauen vermag, so hat er in dieser besseren Welt auch sicherlich längst einsehen gelernt, daß ein adliger Zahnarzt hundertmal ehrenwerther ist als ein adliger Faullenzer und Tagedieb.“

Sie antwortete ihm nicht, und es gab ein kleines, drückendes Schweigen, bis er in seinem früheren, leichteren Tone fortfuhr:

„So viel von mir! Nun möchte ich endlich von Deinen Erfolgen hören! Du hast also Dein Talent entdeckt und bist unter die Künstler gegangen?“

„Das heißt, ich übermale dreißigmal hintereinander dieselbe Photographie, auf welcher der Trompeter von Säkkingen sein ‚Behüt Dich Gott‘ über den Rhein hinüber bläst, und ich schmücke Ballfächer mit Amoretten, von denen mir ein aufrichtiger Freund soeben sagte, daß sie gezierte Stellungen und unmögliche Glieder haben.“

„Neben Angelika Kauffmann also wirst Du Deinen Platz am Ruhmeshimmel nicht erhalten? – Schade! Es wäre doch so etwas wie ein Ausgleich mit meiner Unwürdigkeit gewesen. Uebrigens ein sonderbarer Geselle, Dein Herr Nachbar von der Presse, liebe Marie! Geschieht es etwa um der wohlwollenden Kunstberichte willen, daß Du solche Gesellschaft duldest?“

„Ach nein,“ lachte sie in unbefangener Heiterkeit, „und wenn Du nur fünf Minuten früher gekommen wärst, hättest Du seine Kritik selber vernehmen können, die allerdings vielleicht wohlwollend, aber gewiß nichts weniger als schmeichelhaft für mich war.“

„So? – Und dann hat ihn das böse Gewissen in die Flucht getrieben? Er sah ja aus, als säßen ihm alle Furien der Unterwelt auf den Fersen.“

„Eine anscheinend unüberwindliche Schüchternheit! Ich bemerke sie kaum noch; denn trotz der Kürze unserer Bekanntschaft habe ich mich an seine Sonderbarkeiten fast gewöhnt.“

„Hum! – Und wie, wenn ich fragen darf, bist Du überhaupt zu dieser Bekanntschaft gekommen?“

„Dadurch, daß Hudetz mir einen Ritterdienst erwies, der mich ihm aufrichtig verpflichtete.“

„Einen Ritterdienst – der? Das ist drollig!“

„Es hätte sogar leicht sehr tragisch werden können. Um mir meinen entflohenen Dompfaffen wieder zu bringen, den die Krähen schon halb umgebracht hatten, kletterte Hudetz aus dem Fenster seines Zimmers auf das Dach hinaus. Ich kann mich noch jetzt dieser fürchterlichen Augenblicke nicht ohne Herzklopfen erinnern. Eine unglückliche Bewegung oder ein Nachgeben der morschen Dachrinne, gegen welche er sich stemmte, hätten ihn unfehlbar in die schreckliche Tiefe stürzen lassen. War es danach nicht meine Pflicht, den armen, verlassenen Menschen mit einiger Freundlichkeit zu behandeln?“

„Und ihn damit vollends um sein bißchen Verstand zu bringen! Begreifst Du in Deiner Unschuld wirklich nicht, Schwesterchen, was es bedeutet, wenn ein Wesen männlichen Geschlechts um des Dompfaffen einer – verzeih’ mir die Offenheit! – hübschen jungen Dame willen auf Dächern mit morschen Regenrinnen sein kostbares Leben aufs Spiel setzt?“

Marie hatte ihn erst mit ungeheuchelter Verwunderung angesehen; dann aber lachte sie fröhlich auf.

„Du glaubst also wahrhaftig –? – Nun, das ist eine Vermuthung, auf die ich freilich niemals gekommen wäre. Und Du thust ihm bitteres Unrecht! Er war erst an dem nämlichen Tage eingezogen und hatte mich sicherlich kaum gesehen. Als er mir meinen zitternden und halb gerupften Hansel wiederbrachte, sagte er nicht etwa: ‚Es wäre mir ein Vergnügen gewesen, mein Fräulein, für Sie den Hals zu brechen,‘ sondern er flüsterte nur wie geistesabwesend, ohne mich anzusehen: ‚Sie wollten ihn zerhacken, weil er aus einem Gefängniß kam – lassen Sie ihn nicht wieder hinaus, ich bitte Sie darum, seine Freiheit wäre nichts als ein langsames, qualvolles Sterben!‘ Dann war er fort, noch ehe ich ihm danken konnte, und er hatte gewiß niemals daran gedacht, sich mir aufzudrängen, wenn ich ihn nicht am nächsten Abend auf der Treppe getroffen und ihn durch längeres Zureden vermocht hätte, auf ein Viertelstündchen bei mir einzutreten.“

„Eine sehr rührende Geschichte! – Und das ist alles, was Du von ihm weißt?“

„Für einen so oberflächlichen Verkehr wie den unsrigen ist es doch wohl genug!“

Der Bruder schien nicht ganz zufrieden, aber er ließ den Gegenstand fallen und fuhr in seiner leichten Weise fort:

„Du fühlst Dich also vollkommen glücklich bei Deinem Trompeter und Deinen Amoretten?“

Marie sah zur Decke des Zimmers empor und faltete die Hände im Schoße.

„Glücklich?“ wiederholte sie nachdenklich. „Nun, wenn ich acht oder zehn Jahre älter geworden bin, werde ich dabei wahrscheinlich vollkommen glücklich sein.“

„Eine diplomatische Antwort und doch einigermaßen deutlich. Du würdest also Deine künstlerische Thätigkeit ohne viel Herzweh mit einer andern Lebensstellung vertauschen?“

„Wenn sie mir zusagt und mir meine persönliche Freiheit erhält – gewiß!“

„Zum Beispiel mit der Stellung einer Geschäftsführerin in meinem Atelier und in meinem Hause, dem ich natürlich einen entsprechend vornehmen Zuschnitt geben würde?“

„Nein, Wolfgang! Ich erkenne die Großmuth Deiner Absicht und ich bin Dir herzlich dankbar dafür. Aber es wäre zwecklos, weiter davon zu reden.“

Er zeigte sich durchaus nicht verletzt und ein gutmüthiges Lächeln zuckte um seine blondbärtigen Lippen.

„Nun ja, ich hätte mir’s denken können! Und vielleicht hast Du recht! Eines schickt sich nicht für alle! Du bist wohl eher für wirkliche Vornehmheit geschaffen als für die Frisierstuben-Eleganz, die ein Zahnarzt doch im glücklichsten Falle nur entfalten kann. Und, Hand aufs Herz, Mariechen! – hast Du Dich hier in dem glänzenden, verführerischen Berlin nie nach dem Leben in der großen Welt gesehnt, für das man Dich nun doch einmal erzogen hat? Hast Du Dich nie in die Kissen einer bequemen Equipage gewünscht? Und hat es Dir nie in den Füßchen gezuckt, wenn irgendwoher die Klänge eines Straußschen Walzers zu Dir drangen?“

Sie hob die gefalteten Hände zum Herzen empor und sah ihm mit leuchtenden Augen in das lächelnde Gesicht.

„Ach ja!“ sagte sie mit reizender Natürlichkeit. „Recht herzinnig habe ich mich oft danach gesehnt – und namentlich an unendlich langen, einsamen Winterabenden gab es oft Stunden, in denen ich mich wirklich ein bißchen unglücklich fühlte, weil es mir für immer versagt bleiben sollte. – Aber – wie Du siehst – ich bin nicht daran gestorben!“

Wolfgang blickte auf seine Uhr und stand auf.

„Es stirbt sich, Gott sei Dank, nicht so leicht,“ meinte er, „und wir Brenckendorfs zumal sind weder aus dem Geschlechte der Toggenburger noch vom Stamme der Asra, welche ‚sterben, wenn sie lieben‘ – Aber nun ist’s genug für heute! Mein Gepäck liegt noch auf dem Bahnhofe; denn ich bin unmittelbar aus dem Zuge zu Dir geeilt! Ich werde im Kontinentalhotel absteigen und wage zu hoffen, daß Du morgen dort mit mir zu Mittag speisen wirst!“

„Deiner Rückkehr zu Ehren – mit Vergnügen! – Du holst mich doch ab?“

„Selbstverständlich! – Um drei Uhr, wenn’s Dir genehm ist! – Doch – eine beiläufige Frage noch! Unterhältst Du gar keine Beziehungen zu unseren hiesigen Verwandten? – Ich vermied es absichtlich, mich in meinen Briefen danach zu erkundigen.“

„Du meinst den General Brenckendorf, unseren sogenannten Onkel?“

„Er ist Papas leiblicher Vetter – warum sollte man ihn da nicht so nennen?“

„Nun ja, Onkel oder nicht, ich habe ihn nie gesehen, ihn so wenig als die Vettern oder die Base, deren Besuch in unserem Elternhause mir ewig die schwärzeste Erinnerung aus der Kinderzeit bleiben wird.“

„Du trägst ihnen den kindlichen Groll doch nicht etwa heute noch nach?“

Gott bewahre! Ich zweifle keinen Augenblick, daß Vetter Lothar im Verkehr mit jungen Damen heute viel artiger ist als damals, wo er vom Morgen bis zum Abend meinen Lehrmeister spielen wollte, und ich hoffe auch, daß sich Bäschen Cilly inzwischen das Kratzen abgewöhnt haben wird. Aber was hilft mir

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 203. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_203.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)