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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

und seinen Verzweigungen hat und darum längs der ganzen unteren Gliedmaßen vom Gesäße bis zu den Fußzehen zur peinlichen Empfindung gelangen kann. Der Schmerz ist meist auf gewisse Punkte beschränkt und steigert sich während der Bewegung sowie auch nachts zuweilen zu bedeutender Höhe. Auch bei diesem Nervenschmerze, welcher zumeist im mittleren Lebensalter und häufiger bei Männern als bei Frauen vorkommt, sind die Entstehungsursachen wechselvolle. Die oberflächliche Lage des Hüftnervs setzt ihn leicht der Schädigung durch Einwirkung von Erkältung und von Verletzungen aus, aber auch Blutstockungen, Unterleibsleiden und innerliche Krankheiten stehen in ursächlichem Zusammenhange mit diesem Leiden, welches durch seine Hartnäckigkeit oft durch lange Jahre vielerlei Beschwerden, Störung der Berufsthätigkeit und Siechthum zu veranlassen vermag.

Und so wie diese beispielweise angeführten Nerven so können viele andere Empfindungsnerven der Sitz und Ausgangspunkt von Nervenschmerzen werden, welche nach längerer Dauer zu gesteigerter Erregbarkeit des gesammten Nervensystems, zu erhöhter Empfindlichkeit aller Nervengebiete führen, alles gesunde Denken und Fühlen aufs tiefste erschüttern. Leicht begreiflich ist es daher, daß den Nervenschmerzen und ihrer Beseitigung vom ersten Beginne an die vollste Aufmerksamkeit zuzuwenden ist. Vor allem müssen jene Schädlichkeiten entfernt werden, welche unmittelbar durch Druck oder Reiz den Nerv treffen und zur Erregung Anlaß geben, dann muß auf Beseitigung entfernter Ursachen, welche mittelbar den Nervenschmerz auslösen, hingewirkt werden.

Die Entfernung eines kranken Zahnes kann den Gesichtsschmerz zuweilen gründlich beseitigen, die Befreiung des Hüftnervs von einem Fremdkörper, der auf ihn drückt, die Ischias völlig heilen; dasselbe Ziel kann in anderen Fällen durch eine geregelte Lebensweise erreicht werden, welche die Verdauung verbessert, die Darmthätigkeit anregt, die Hartleibigkeit bekämpft. Manchmal hat ein Abführmittel Nervenschmerzen mit einem Schlage zum Stillstande gebracht, die jahrelang allen möglichen Behandlungsarten Trotz boten, und an den Heilquellen Marienbads habe ich häufig Gelegenheit, solche erfreuliche Beobachtungen anzustellen. Doch nicht immer glückt es, die Ursache der Nervenschmerzen klar zu legen und dieselbe zu beseitigen.

Hier ist es Aufgabe des Arztes, schmerzlindernd einzuwirken, die Empfindlichkeit der Nerven herabzusetzen. Diesen Zweck sucht man zuweilen durch kräftige Ableitungen auf die Haut im Verlaufe des angegriffenen Nerven oder in seiner Umgebung zu erreichen. Senfpflaster, spanische Fliegen, Brennen mit dem Glüheisen, trockene Schröpfköpfe sind solche Ableitungsmittel. Zu den ärztlichen Heilverfahren, welche in hervorragender Weise die kranken Nerven beeinflussen, gehört die elektrische Behandlung. Die Anwendung des elektrischen Stromes führt nicht nur Schmerzlinderung herbei, Abschwächung der Schmerzanfälle, Beruhigung der Nervenerregung, sondern erzielt oft Besserung und Heilung in recht verzweifelten Fällen. Gleiches läßt sich vielfach dem Gebrauche der warmen Bäder, namentlich der natürlichen Thermen von Teplitz in Böhmen, Wildbad, Warmbrunn, Wiesbaden, Gastein u. a. nachrühmen, sowie der Soolbäder, Schwefelbäder und der in jüngster Zeit so sehr in Aufnahme kommenden Moorbäder. Zuweilen thun dort, wo die Nervenschmerzen der Anwendung der Wärme hartnäckigen Widerstand leisten, kalte Bäder, Waschungen und Abreibungen treffliche Dienste, und nicht selten feiert die Kaltwassermethode gerade bei langjährigen Nervenschmerzen wahre Triumphe, besonders dann, wenn die Neuralgie in Erkältung begründet ist und es sich darum handelt, das Hautorgan abzuhärten, gegen die Einflüsse von Witterungswechsel minder empfindlich zu gestalten. Die örtliche Anwendung der Kälte in Form von Eisbeuteln, Eisbestreichung, kalten Ueberschlägen ist ein vorzügliches Mittel, die Ueberempfindlichkeit eines Nervs herabzusetzen.

Zuweilen sind, um die bedeutenden Nervenschmerzen zu lindern und überhaupt erträglich zu gestalten, Arzneimittel nöthig, welche die Eigenschaft haben, in das Blut übergeführt das Gefühlsvermögen aufzuheben oder herabzusetzen. Derartige Mittel sind seit alten Zeiten bekannt, und ihre Anwendung findet sowohl äußerlich statt als auch innerlich. Namentlich bei dem inneren Gebrauche narkotischer Arzneimittel, wie des Opiums und Morphiums, ist große Vorsicht und Zurückhaltung nothwendig. So wohlthätig, so geradezu unentbehrlich die schmerzstillende und beruhigende Wirkung dieser Arzneien bei Nervenschmerzen sein kann, so ist doch nie außer acht zu lassen, daß der Organismus des Menschen sich leicht an diese Mittel gewöhnt, immer häufigere Anwendung und größere Gaben derselben verlangt und schließlich durch allmähliche Vergiftung völliges Siechthum des Körpers, Zerrüttung des Geistes herbeigeführt wird. Der Augenblick, wo ein mit Nervenschmerzen behafteter Mensch zum erstenmal die Morphiumspritze ergreift, um sich (durch Einspritzen der Morphiumlösung unter die Haut) von dem Schmerze für kurze Zeit zu befreien, ist oft entscheidend für sein ganzes ferneres Leben. Bald ist es nicht bloß der wirklich unerträgliche Nervenschmerzanfall, die höchste Pein der Empfindung, gegen die das Betäubungsmittel in Anspruch genommen wird, sondern jede kleine Unlust, jeder Aerger, Sorge und Kummer lassen zum Morphium greifen, um den Schleier des Vergessens über die Unannehmlichkeit zu werfen und im Traume des Rausches jede bedrückende Wirklichkeit untergehen zu lassen. So sinkt der Unglückliche von Stufe zu Stufe in den Sumpf der Morphiumvergiftung, aus dem nur selten und schwer eine rettende Befreiung möglich ist. Die Thatkraft und Widerstandsfähigkeit, das Pflichtbewußtsein und die Schaffenslust gehen verloren, körperlich gebrochen, schlaff und theilnahmslos, dann wiederum ängstlich und unruhig, erregt und gereizt, bietet der Unglückliche die bedenklichsten Erscheinungen des sogenannten „Morphinismus“. Und ein ähnlicher entsetzlicher Zustand bildet sich durch die Gewöhnung an andere schmerzstillende Arzneien, wie an das in neuester Zeit so beliebt gewordene Cocaïn, aus. Darum können alle, welche an Nervenschmerzen leiden, nicht laut und ernstlich genug ermahnt werden, nur im äußersten Falle und nur auf ärztliche Verordnung betäubende, schmerzstillende Arzneien in Anwendung zu bringen, sich nicht an dieselben zu gewöhnen, sie stets und immer als ein Uebel, wenn auch als ein zuweilen nothwendiges Uebel zu betrachten, insbesondere aber die Hauteinspritzungen mit Morphium- oder Cocaïnlösung nur von dem Arzte besorgen zu lassen, nicht selbst vorzunehmen.

In jüngster Zeit spielt unter den gegen Nervenschmerzen angewandten Heilverfahren die Massage eine große Rolle. Und in der That vermögen bei den Neuralgien, welche durch Erkrankung der Nervenverzweigungen infolge von Erkältung entstanden sind oder mit Blutstockung zusammenhängen, die mannigfachen, zweckmäßig vorgenommenen Handgriffe der Knetung sowie angemessene Muskelübungen günstige Wirkung zu erzielen, um so günstiger, je mächtiger die Muskeln, je zugänglicher die Weichtheile sind, in denen die Neuralgie ihren Sitz hat. Die Gebilde, in denen die kranken Nerven sich ausbreiten, müssen nach allen Richtungen, jedoch nur von kundiger, sachverständiger und geübter Hand durch Druck, Reibung, Knetung, Erschütterung und Bewegung durchgearbeitet werden, um die Störungen in den kranken Nerven zu beheben. Rohe Handgriffe unverständiger Personen, denen sich der Massagebedürftige leider noch zu oft anvertraut, können mehr Schaden stiften als Nutzen bringen. Zu den Bewegungskuren, welche bei Nervenschmerzen Linderung herbeiführen, zählt auch die Heilgymnastik. In manchen Fällen wird aber gerade das Gegentheil, nämlich vollständige Ruhe zur Besänftigung des gereizten Nervensystems, zur Herabstimmung der Ueberempfindlichkeit nöthig sein. Darüber muß eben der Arzt entscheiden.

In verzweifelten Fällen von Nervenschmerzen, wo Arzneien und mechanische Mittel im Stich lassen, wird man chirurgische Hilfe anrufen, um mittels Nervendurchschneidung eine längere Unterbrechung der Leitung im Nerv zu erzielen und so den Schmerz zu bekämpfen. Es ist eben das letzte Mittel, das man dem Unglücklichen nicht versagen darf, um ihn von einem jammervollen Zustande zu befreien, welcher auf die Dauer geradezu unerträglich ist. Der Erfolg, welchen diese Operation wiederholt erzielt hat, rechtfertigt den allerdings sehr energischen Eingriff.

Der beste Schutz vor Nervenschmerzen, sowie vor vielen anderen Nervenkrankheiten besteht aber immerdar in Schonung der Nervenkraft, Vermeidung körperlicher und geistiger Ueberanstrengung, systematischer Durchführung körperlicher Bewegung und Muskelübung, vernünftiger Abwechselung von Arbeit und Erholung, endlich in Abhärtung des Leibes und Stählung der psychischen Widerstandskraft, in allem, was verhüten kann, daß unser Empfinden nicht in Empfindelei, unser Fühlen nicht in Zärtelei ausarte!




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 236. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_236.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)