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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Wie hier eine harmlose Sitte unserer Tage durch die Sklaverei zur Menschenfresserei zurückgeführt hat, so lassen sich umgekehrt auch vom Kannibalismus wieder Entwicklungsgänge bis zu uns herunterführen, die oft thöricht erscheinen, bisweilen aber geradezu grausig sind. Nicht der Hunger, sondern die mystische Vorstellung von der Seele hat den Wilden zu dieser schrecklichsten aller Verirrungen geführt. Der Wilde, der zwischen wachen Vorstellungen, Träumen und Einbildungen nicht zu unterscheiden vermag, denkt sich die ganze Welt mit Seelen bevölkert, die zwar nicht immer greifbar oder sichtbar, stets aber stofflicher Art sind. Die Seelen wohnen an der Begräbnißstätte und fordern Speise und Trank. Blut gehört zu ihrem Verlangen, wie denn auch der göttliche Dulder Odysseus die Seelen im Hades Opferblut trinken läßt. Ist der Erschlagene nicht bestattet, so irrt seine Seele blut- und rachedürstend in der Luft umher, sobald der Körper zerfällt. Sie wendet ihren Zorn gegen den Mörder. Wie kann dieser sich nun besser schützen, als wenn er den Erschlagenen verschlingt? Die blutdürstige Seele müßte dann ja von ihrem eigenen Blute trinken, wenn sie Rache nehmen wollte. Der Wilde bemerkt, daß die Nahrung kräftigt. Da er aber von den chemischen Gesetzen der Verdauung keinen Begriff hat, so glaubt er, die „Seele“ des Genossenen gehe auf ihn über. Stanley erzählt von einem Negerstamm, der sich das Herz eines gelieferten Ochsen zurückerbat in dem Glauben, er würde durch den Genuß des Herzens die Stärke und den Muth des Rindes erlangen, während Stanley und seine Leute durch das Essen des herzlosen Thieres muthlos und kraftlos werden müßten – beiläufig bemerkt, eine Anschauung, auf die unser sogenanntes „Jägerrecht“, welches dem Jäger, nicht dem Jagdherrn, die inneren Theile des erlegten Wildes zuerkennt, zurückzuführen ist. Das Herz galt oft als Sitz der Seele. Da sich aber die Seele nicht greifen ließ, so verallgemeinerte man ihren Sitz und schrieb mystisch jedem Theile des erschlagenen Menschen oder Thieres die Vollkraft der Seele zu, besonders aber dem Blute. Daher das mosaische Gebot, welches den Genuß des Thieres in seinem Blute, viehische Verwilderung befürchtend, untersagt.

Aus diesen Anschauungen heraus entwickelte sich der vielgestaltige Aberglaube und die Zauberei, die mit Theilen des menschlichen Körpers bei allen Völkern der Erde und auch bei uns noch heute getrieben wird. Gehalten und gekräftigt hat sich dieser Aberglaube durch die unleugbaren Beeinflussungen des einen Menschen durch den anderen, wie sie beim Massiren und Hypnotisiren zu beobachten sind und von Völkern sehr niederer Kultur beobachtet werden. Die „Seele“ muß das Unerklärte mystisch faßbar machen. Die Seele des Verstorbenen durchdringt mit dem Schweiß und der Ausdünstung ererbte Gegenstände, mit denen der Verstorbene in näherer Berührung stand, wie z. B. Erbbibel, Erbsieb, Erbschlüssel und Erbhemden. Sie ist es, die, richtig befragt, zukunftdeutende Antwort giebt. Vor allem aber lebt sie in dem Blute der Geopferten – und das sind ursprünglich die Menschenopfer und nach der roh religiösen Volksanschauung noch heute die hingerichteten Verbrecher. Als im Jahre 1770 die Mörderin Göttrichs zu Neubrandenburg hingerichtet und ihr Körper lange Zeit auf dem Rade liegen geblieben war, entdeckte man, daß ihr ein Fuß fehlte. Es ergab sich, daß er gestohlen war, um Pferde damit zu heilen. Die Hingerichtete sollte also nach ihrem Tode mystisch weiter wirken, sie war durch das Opfer geheiligt. Selbst bei Leuten, die auf Bildung Anspruch machten, herrschte die Vorstellung, daß eben die Hinrichtung ein Opfer sei. „Die Blutschuld ist von Land, von Stadt und von dem Hause, worin die Mordthat geschehen, abgewendet, der Fluch ist entwichen, der göttliche Zorn hat sich gelegt“ predigte damals der Pastor Jacobi genau in dem Sinne des alten Heidenthums, den Akt einer grausamen weltlichen Gerechtigkeit als Sühnopfer hinstellend. Also wird es erklärlich, daß in Hanau 1861 viele Menschen aufs Schaffot stürzten und von dem rauchenden Blute eines Raubmörders tranken, und daß 1864 die Scharfrichtergehilfen in Berlin ganze Massen von weißen Taschentüchern in das Blut eines Gerichteten tauchten und das Stück zu zwei Thalern verkaufen konnten. Eine Handlung wirklicher Menschenfresserei beging 1888 der Arbeiter Bliefernicht aus Sage in Oldenburg in dem Glauben, wer von dem Fleische junger unschuldiger Mädchen äße, könne ungestraft thun und lassen, was er wolle.

Der letzte Grund dieser schaurigen Entartungen geht auf eine rohe, ganz materialistische Anschauung von der Seele zurück. Aus den Tagen der Wildheit hat sie sich hinübergelebt durch das Mittelalter. In den Visionspoesieen dieser Zeit erblicken wir die „Seelen“ im Fegefeuer rein körperliche Strafen erduldend. Die Seele muß wandern und leiden und kann nach ihrer Rückkehr in den Körper ihre Erlebnisse erzählen. Um Eindruck zu machen, schildert sie oft mit einer entsetzenerregenden Phantasie. Diese materialistische Weltanschauung mußte zu einer gänzlichen Verkehrung des Gefühls hinleiten. Waren eben die körperlichen Leiden der „Seele“ im Fegefeuer so furchtbar, dann war es Gnade und Barmherzigkeit, nicht Grausamkeit, wenn man die armen Sünder mit dem Aufgebote allen Scharfsinnes recht lange folterte und langsam zu Tode peinigte, um sie womöglich noch zum Bekenntniß ihrer Schuld zu bringen. Hier litt der Körper nur Tage und Stunden, dort die Seele Ewigkeiten. Gab man ihr auf dem Schaffot unter Schmerzen Zeit zur Bekehrung, so schützte man sie vor Jahrtausenden von größeren Schmerzen. Schrecklicher ist vielleicht nie in Deutschland verfahren worden, als beim Hexenprozeß in Würzburg und doch war der Bischof Julius Echter von Mespelbrunn (1575 bis 1617), mit dem diese grausige Epoche begann, die vielen Tausenden den qualvollsten Tod brachte, ein Mensch, der ein Herz für Leidende hatte. Das berühmte Juliusspital, das er gestiftet hat, schafft noch heute Segen und Hilfe.

Die materialistische Form des Seelenglaubens bevölkerte die ganze Welt mit Wesen, die zum Theil zu Göttern emporwuchsen.

Die unheimliche Fluth ist es besonders, welche die Phantasie gereizt hat, schon Jahrtausende früher, ehe Poseidon den Dulder Odysseus auf ihr umhertrieb. Uralt ist die Sitte, daß man einen Menschen ins Wasser wirft, um die gefräßige See zu befriedigen. Man kennt die Geschichte von Jonas, und ein Walfisch, der den Unglücklichen etliche Tage in seinem Magen beherbergte und dann unverdaut und wohlbehalten dem Lande übergab, war leider nicht immer bei der Hand. Wir sprechen noch von der „gefräßigen“ See. Nach dem Glauben der Neuseeländer sind es gefräßige übernatürliche Ungeheuer, welche die Ertrinkenden verschlingen. Bei den Siamesen ziehen die „Pnük“, Wassergeister, die Badenden in ihre unterseeischen Wohnungen hinab wie bei den Slaven der Topielec. Im Mummelsee im Schwarzwald lebte nach der Sage ein Wassermann, der sich die Seelen der Ertrunkenen einfing und in Töpfen aufbewahrte, bis ein Bauer sie befreite. Ganz dieselbe Sage geht im Süden von Irland, wo der Meermann Coomeara die Töpfe voll Seelen dem Fischer Jack Dogherty als seine „curiosities“, seine „Merkwürdigkeiten“, zeigte. Der wackere Ire trank den Meermann unter den Tisch und „in he went and turned up the pots, but nothing did he see, only heard a sort of a little whistle or chirp as he raised each of them“, „er trat ein und drehte die Töpfe um, sah aber nichts, nur hörte er eine Art von leisem Pfeifen oder Zirpen bei jedem, den er aufhob.“ Also auch hier war die Seele zwar unsichtbar, aber greifbar und hörbar gedacht.

Unfreundlicher gestaltet sich die Vorstellung, sobald sich der Begriff des Opfers einmischt. „Es rast der See und will sein Opfer haben“, folglich ist es unrecht, ihm dasselbe zu entreißen. So wagten nach einem Berichte aus dem Jahre 1864 böhmische Fischer nicht, einen Ertrinkenden zu retten, aus Furcht, der Wassergeist entzöge ihnen dann das Glück beim Fischen.

Wie tief dieser Glaube auch noch heute in Deutschland haftet, mag ein Beispiel aus dem Jahre 1884 beweisen. Auf dem Zierker See bei Neustrelitz brach ein allgemein beliebter junger Offizier im Eise ein und ertrank. Sein schlichtes und außergewöhnlich liebenswürdiges Wesen hatte ihm die Liebe auch der unteren Kreise gewonnen. In diesen verbreitete sich das Gerücht, Leute aus der Feldmark Lindenberg hätten seine Hilferufe gehört, aber in dem Aberglauben, Ertrinkenden dürfe man nicht helfen, keine Hand gerührt. Das Gerücht stellte sich allerdings als unwahr heraus, aber die Thatsache, daß es plötzlich aufgetaucht war, beweist, welcher Gedanke sich hinter der jährlich wiederkehrenden Redensart „der Zierker See will sein Opfer haben“ verbirgt.

Wie das Wasser, so forderte auch bis in die Tage unserer Kultur das Land „sein Opfer“, wenn ein Schiff strandete oder einem Frachtwagen die Räder brachen, so daß er den Boden berührte. Das Strandrecht, „die Grundruhr“, welches sich aus dieser religiösen Vorstellung entwickelte, galt nicht nur an der West- und Ostsee, sondern auch in Mittel- und Süddeutschland.

Auch das Feuer wird als gefräßiges Ungeheuer gedacht. In Tirol und in der Schweiz wird das Herdfeuer an bestimmten Tagen mit Kuchen und Broten gefüttert, damit es nicht in Zorneswuth

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_251.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)