Seite:Die Gartenlaube (1890) 266.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Frau Haberland – das ist in einem solchen Hause doch wohl einigermaßen bedenklich für eine schutzlose Frau.“

Sie ließ wieder jene eigenthümlichen, höhnisch kingenden Laute vernehmen, die zwischen Grunzen und Lachen die Mitte hielten.

„Bedenklich? Warum denn bedenklich? – Zu stehlen ist bei mir doch nichts! Und wenn’s etwa einem Vergnügen macht, mich todtzuschlagen – immer zu! Ich halte still, denn mit fünfundsiebzig ist man schon viel zu lange auf der Welt.“

Er wollte in sein Zimmer gehen, doch ihre rauhe Stimme hielt ihn zurück.

„Heda, wie heißen Sie denn nun eigentlich?“

„Hudetz – Joseph Hudetz.“

„Auch ein sonderbarer Name! Na, Herr Hudetz, dann setzen Sie sich mal hierher! Ich möchte noch ein paar Worte mit Ihnen reden.“

Es war etwas in ihrem Wesen, das ihm jede Möglichkeit abschnitt, ihr den Gehorsam zu verweigern. Stillschweigend stellte er seinen Koffer nieder, und da er außer dem Holzstuhl, welchen sie selbst eingenommen hatte, kein anderes geeignetes Sitzmöbel zu erspähen vermochte, kauerte er sich auf den äußersten Rand des schmalen eisernen Bettgestells.

„Sie wollen also nicht angemeldet werden?“ begann Frau Haberland. „Hm – das macht nichts! Dafür kann man mancherlei Gründe haben. Und ich melde meine Miether niemals an – niemals! Die Polizei braucht ihre Nase nicht in alles zu stecken. Und ich hasse die Polizei – ja, ich hasse sie!“

Aus ihren tiefliegenden Augen sprühte ein unheimliches Feuer, und sie schlug mit der knochigen Faust auf den Tisch, daß das Glas der Lampe erklirrte.

Hudetz verhielt sich ganz still; aber seine unscheinbare Gestalt schien immer mehr in sich zusammenzusinken.

„Na, warum reden Sie nicht?“ fuhr die Alte fort, ihn mit einem durchdringenden Blick betrachtend. „Wenn ich sage, daß ich die Polizei hasse, so habe ich darum doch noch lange keine Lust, jedes Gesindel bei mir zu beherbergen. Lassen Sie sich’s gesagt sein, Herr – wie war doch gleich Ihr Name?“

„Hudetz!“ wiederholte er zuvorkommend. „Aber, wenn ich Ihre Worte dahin verstehen soll, daß es Ihnen leid geworden ist, mir das Zimmer abgetreten zu haben –“

„Leid – warum denn? – Wen’s nicht juckt, der braucht sich nicht zu kratzen. Natürlich haben Sie schon gesessen?“

Die Frage war ganz unvermittelt und in demselben polternden Ton herausgekommen, in welchem sie alles übrige gesprochen hatte. Hudetz zuckte zusammen, als hätte man ihm hinterrücks einen Faustschlag versetzt, und seine Augen irrten scheu in alle Winkel der Küche. Aber nach einer kleinen Weile sagte er ganz leise und wie von einer unwiderstehlichen Gewalt dazu getrieben:

„Ja!“

„Hätt’s Ihnen auch nicht geglaubt, wenn Sie ‚nein‘ gesagt hätten. Ich habe einen Blick dafür. Was war’s denn – he? Fälschung wahrscheinlich oder Betrug! Denn nach was Handfestem sehen Sie doch nicht aus!“

Hudetz schüttelte den Kopf. In seinem schmalen Gesicht zuckte es und seine Hände waren in beständiger nervöser Bewegung.

„Ich wurde zu sechs Monaten Gefängniß verurtheilt wegen – wegen Diebstahls,“ stieß er hervor, an jedem Worte würgend und doch sichtlich außer stande, mit einer Lüge zu antworten.

Die Alte wiegte den Kopf hin und her. Dann wurde sie aufs neue von einem ihrer heftigen Hustenanfälle heimgesucht und sie mußte ein wenig von dem abscheulich duftenden Kaffee trinken, ehe sie wieder zu sprechen vermochte.

„Sechs Monate – hm! – Und Sie haben sie abgemacht? In Plötzensee?“

„Nein! Meine Verurtheilung erfolgte in Breslau, und dort habe ich auch die Strafe verbüßt. Ich war damals Student.“

Frau Haberland fand nichts Ueberraschendes in der letzteren Mittheilung.

„Student – ja, das kennt man, und ein armer Teufel dazu – nicht wahr? Keinen Bissen Brot im Leibe, und dabei die anderen mit den bunten Bändern schlemmen und lumpen sehen wie die – na ja –; bei mir wohnte auch ’mal so einer, vor zehn Jahren glaube ich! Er mußte im Januar mit einem dünnen Sommerröckchen laufen, weil alles beim Pfandleiher war. Kaffee und Salzkuchen und immer wieder Kaffee – und dabei bis zwei, drei Uhr nachts über den alten Schmökern. ’s war auch so ein jämmerliches Kerlchen wie Sie, und er ist natürlich in der Charité an der Auszehrung gestorben, ehe er mit seinem Studieren fertig war. Aber zu verwundern wär’s nicht gewesen, wenn er gestohlen hätte, um sich mal satt zu essen. Und übelgenommen hätt’ ich’s ihm wahrhaftig nicht.“

Es gab ein kleines Schweigen, während dessen Hudetz unruhig hin und her rückte. Dann sagte er plötzlich:

„Ich würde niemals aus Hunger gestohlen haben, Frau Haberland.“

„Nicht?“ – Sie sah ihn wieder mißtrauisch an. „Ja, warum denn sonst?“

„Ich hatte von Jugend auf eine leidenschaftliche Liebe für die bildende Kunst. Hätte ich auch nur die geringste Begabung besessen, so wäre ich ohne Zweifel ein Maler geworden. So aber wollte ich wenigstens das Studium der Kunst und ihrer Geschichte zu meiner Lebensaufgabe machen. Es ist mir schwer geworden, dahin zu gelangen – sehr schwer, denn ich war bettelarm. Aber ich konnte doch endlich die Universität beziehen, und wenn es mir da auch nicht besser erging als dem Studenten, von welchem Sie sprachen, so war ich doch sehr glücklich – wahrhaftig, es war bei Hunger und Noth die glücklichste Zeit meines Lehens. Man bemerkte meinen Eifer und war sehr gütig gegen mich. Nicht nur die öffentlichen Sammlungen durfte ich zu einer Zeit besuchen, wo sie andern verschlossen waren, sondern auf die Empfehlung des Professors hin gestattete mir auch ein reicher Privatmann die Benutzung seiner kostbaren Schätze an seltenen Radirungen und Stichen. Und ich hatte das Unglück, mich in einige dieser Blätter zu verlieben.“

Die Alte hatte seiner leisen, eintönigen Erzählung, die ihr zu weitläufig scheinen mochte, mit unverhohlenem Mißvergnügen zugehört. Nun aber fiel sie ihm schroff in die Rede.

„Schwatzen Sie doch keinen Unsinn! Ich weiß nicht, was Stiche und Radirungen sind; aber daß man sich nicht in Blätter verlieben kann, wenigstens nicht, wenn man seine gesunden fünf Sinne hat, weiß ich am Ende doch!“

„Vielleicht war ich wirklich nicht ganz bei Sinnen,“ sagte er, immer in das röthliche Flämmchen der trübe brennenden Küchenlampe starrend, „wie hätte ich sonst die Erbärmlichkeit begehen können, das Vertrauen zu täuschen, das man in mich setzte, und aus bloßer Sehnsucht nach dem Besitz nicht nur das öffentliche Kupferstichkabinett, sondern auch den edlen Mann zu bestehlen, der mich in das Allerheiligste seines Hauses eintreten ließ, weil er einen rechtschaffenen Menschen zu unterstützen gedachte.“

„Na, nun hören Sie gefälligst mit den überspannten Redensarten auf, wenn man die ganze Geschichte überhaupt verstehen soll! Also Bilder sind es gewesen, nach denen Sie lange Finger gemacht haben?“

„Ja, einige Künstlerdrucke von höchster Seltenheit. Ich weiß nicht, wie ich zuerst auf den Gedanken kam, sie zu entwenden; aber ich ging umher wie im Fieber, bis es mir gelungen war, einen nach dem anderen unter meinem Rocke unbemerkt hinaus zu schaffen. Als ich sie vor mir in der Stube hatte, tanzte ich vor Freuden herum wie ein Wahnwitziger, und es kam mir gar nicht in den Sinn, daß es ein gemeines Verbrechen sei, dessen ich mich schuldig gemacht hatte. Ich war nur überselig in dem Bewußtsein, die unvergleichlichen Blätter mein eigen zu nennen.“

„Na ja, so geht es immer, bis das dicke Ende nachkommt. Als Sie den Krempel an den Mann bringen wollten, nahm man Sie natürlich beim Kragen – nicht wahr?“

Hudetz sah ohne Verständniß in das harte, faltige Gesicht.

„An den Mann bringen?“ wiederholte er. „Verkaufen? – Ja, ich wollte sie doch nicht verkaufen!“

„Aber was, zum Henker, wollten Sie denn sonst? Wenn man hungert und friert, stiehlt man doch nicht zum bloßen Vergnügen.“

„Ich hatte in der That keine andere Absicht als die, mich Tag für Tag und Stunde für Stunde an dem Anblick meiner Lieblinge zu weiden. Vielleicht, ja, wahrscheinlich hätte ich sie ihren rechtmäßigen Eigenthümern freiwillig zurückgebracht, sobald mir die Tragweite meiner Handlung zum Bewußtsein gekommen wäre. Aber die Justiz war schneller als mein Gewissen. Der Diebstahl wurde schon nach wenig Tagen entdeckt, und der Verdacht konnte sich auf keinen anderen lenken als auf mich. Die

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 266. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_266.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)