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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

und mit einem Strich alle Erinnerungen des Alterthums auslöschen: „Kommt alle, Dichter oder Maler, Gelehrte oder Schriftsteller; schlagt drein, beißt, zertrümmert, seid grausam oder ungerecht . . . was liegt daran, wenn nur der Zweck erreicht wird.“ Aber im Unterschiede von Vallès erhebt er die Liederlichkeit geradeswegs auf die Höhe eines Staatsgrundsatzes, indem er ausruft: „Ein Volk, das liederlich wird, ist in Wahrheit seiner Rettung sehr nahe. Es wird sich nach und nach von allen Vorurtheilen befreien, die man ihm auferlegt hat, und es wird durch die Verderbtheit zur Einsicht gelangen. Das Knallen der Champagnerpfröpfe gewöhnt das Ohr an das Knallen der Pistolenschüsse. Man köpft die Flaschen den Philistern unter der Nase. Eine betrunkene Dirne wird plötzlich mit ihrem Fuße dem Jahrhundert seine Schlafmütze herabstoßen.“ Politik war eigentlich nie die Sache Maroteaus gewesen, ja er sagte noch später freimüthig, dieselbe sei ihm im Grunde langweilig und verhaßt. Allein da seine Romane und Gedichte nicht einschlagen wollten, so gründete auch er, um schneller ans Ziel seines Ehrgeizes zu gelangen, ein eigenes Blatt: „La Montagne“, in welchem er durch unerhörte Rohheit seinen Lehrer Vallés und selbst den Marat der großen Revolution zu übertrumpfen suchte.




II.

Es hatte wieder jenes Treiben platzgegriffen, das Camille Desmoulins schon in seinem „Vieux Cordelier“, seinem „alten Schuster“, geschildert hat: „wenn ein Blatt leidenschaftlich ist, so sucht ein anderes wahnsinnig zu sein; man hält es für eine Schande, sich in Uebertreibung und Ueberhetzung von einem andern einholen zu lassen.“ So hatte man denn auch die Leiche des berüchtigten „Père Duchêne“ aus der großen Revolution wieder zu künstlichem Leben erweckt. Täglich wurden die Pariser aus ihrem Morgenschlafe durch das Geschrei der Ausrufer geweckt: „Der große Zorn des ‚Père Duchêne‘; er hat heute wieder einen furchtbaren Zorn, der ‚Père Duchêne‘.“ Im Tone eines Mannes aus dem niedersten Volke wurde hier unter entsetzlichen Flüchen, Schimpfworten und Zoten täglich das Blut der Feinde der Kommune gefordert und über die Noth des Volkes und die Liederlichkeit der Reichen geschimpft. Der namenlose Mann aber, der solches schrieb, bei den Weibern der Vorstädte ein blindes Vertrauen genoß und mit seinem Fluchhandwerk Tag für Tag nachweisbar seine fünfzehnhundert Franken verdiente, wurde endlich als jener Eugen Vermersch enthüllt, der sich früher als Verfasser unsauberer Romane, als Biograph und Freund von Geschöpfen der Halbwelt und als Dichter sybaritischen Lebensgenusses einen gewissen Ruf gemacht hatte.

Diesem Vermersch stand, was Feigheit und sinnlose Grausamkeit betrifft, wohl am nächsten das Kommunemitglied Felix Pyat.

Pyat, der voriges Jahr in Paris starb, ist das Urbild jener Abart von Revolutionspriestern, welche zunächst den überlieferten Sprachschatz der großen Revolution in ihren Schriften verwerthen und, wenn ein gläubiges Volk sie beim Worte nimmt, sich als alles andere eher entpuppen, denn als Männer der That oder Märtyrer einer festen Ueberzeugung.

Nachdem der früher den Orleans ergebene Zeitungsschreiber sein Glück mit etlichen Volks- und Schauerstücken gemacht hatte, in welchen die Schreckensmänner der Revolution verherrlicht, alle Tugenden den Proletariern zugeschrieben, alle Laster den Besitzenden und Adeligen aufgehalst wurden, konnte es nicht fehlen, daß ihn die Volksgunst bei der Februarrevolution in die Gesetzgebende Versammlung berief. Aber schon damals stand die Ueberzeugung seines ganzen Lebens fest, Vorsicht sei das bessere Theil der Tapferkeit; und in dem Augenblicke, da er seinen Mann stellen sollte, floh er als Weib verkleidet ins Ausland. Auch später erwachte immer in der Stunde, da es Ernst wurde, nur der alte Dramaturg in ihm, und er trug blutdürstige Monologe aus noch ungedruckten Stücken vor, wenn man eine rettende That von ihm erwartete, oder er verschwand in einer der vielen von ihm stets bereit gehaltenen Verkleidungen als Priester, Mönch oder altes Weib, sobald er angekündigt hatte, er werde für die Freiheit sterben.

Es war in der Mitte der sechziger Jahre, da erhielt ich eines Tages wie viele andere, die damals in Paris lebten, aus London unter Kreuzband einen Abdruck von Fénelons „Telemach“ zugeschickt. Als ich verwundert das Ding betrachtete, nahm ich mit einem Male wahr, daß der harmlose Text in ein schwülstiges Gebet auslief, das Pyat an „das heilige Kügelchen“ richtete, welches Ludwig Napoleon durchbohren und die Welt von diesem Tyrannen befreien werde. Der grimmige Tyrannenhasser glaubte vielleicht, mit dem Absenden dieser Schrift eine Großthat zu vollbringen; daß das Empfangen derselben irgendwem gefährlich werden könnte, kümmerte ihn weniger. So recht in seinem Fahrwasser befand sich Pyat, als er während der Belagerung von Paris aus dem sicheren Verstecke bei den Männern oder vielmehr bei den Weibern von Belleville in seinen Blättern „Combat“ und „Vengeur“ („Kampf“ und „Rächer“) gegen die Regierung hetzen und die Aufstände vom 31. Oktober und vom 22. Januar mit fachkundiger Hand veranstalten konnte. In den ersten Märztagen predigte er sodann auf den Höhen von Belleville, der Vertrag zwischen Thiers und Bismarck habe nur die Wiederherstellung des Königthums zum Zwecke und sobald die Kommune gebildet und er zum Mitgliede derselben ernannt war, erschöpfte er sich in den wahnwitzigsten Anträgen und Vorschlägen. So vertheidigte er unter anderm das Recht, Mitglieder der Kommune selbst dann zu verhaften, wenn diese die Verhaftung nicht gut heiße. Am unversöhnlichsten tobte er freilich gegen die gemäßigten Blätter, die zwar vor einigen Monaten noch gegen die Unterdrückung seines „Vengeur“ Einsprache erhoben hatten, mit denen er aber, trotzdem er allen niedrigen Leidenschaften der Menge schmeichelte, den Wettbewerb nicht auszuhalten vermochte. Als auch, zufolge echt revolutionärer Ueberlieferung, ein „Wohlfahrtsausschuß“ eingesetzt wurde, nahm er zwar anfangs seine Ernennung in denselben mit Vergnügen an, allein die Freude wurde ihm verdorben, da man gerade in dem Augenblick, als es mit der Kommune sichtlich dem Ende zuging, die Verhandlungen desselben zu veröffentlichen anfing. Bei den bedenklicheren Abstimmungen blieb er unter irgend einem Vorwand abwesend, und er mußte es sich gefallen lassen, daß ihm Vermorel in offener Sitzung vorwarf: „Seitdem gegen Ihren Willen und auf mein Andringen unsere Sitzungsberichte öffentlich geworden sind, haben Sie sich durch ein fast vollständiges Schweigen bemerklich gemacht und sich ausschließlich für die geheimen Ausschüsse aufbewahrt, wo Sie stets die unduldsamsten, gewaltthätigsten, schärfsten Maßregeln befürworteten. Zugleich zeigen Sie sich in Ihrem Blatt jetzt als Vertheidiger der Mäßigung und Versöhnung. Ihr Spiel ist leicht zu durchschauen. Sie waren einerseits auf Ihre Beliebtheit bedacht, für den Fall, daß das Volk siegrrich bliebe, und anderseits hielten Sie sich eine Hinterthür offen, um im Falle des Sieges von Versailles den Verfolgungen zu entgehen.“

Diese Vorwürfe machten denn doch auf Felix Pyat einen solchen Eindruck, daß er die erste Gelegenheit benützte, um sich durch besonders heftige Redensarten weißzuwaschen. Es that auch seinem dramaturgischen Herzen äußerst wohl, als am 30. April die Freimaurer von Paris, etwa 3000 an der Zahl, mit Ordensabzeichen, Schürzen, Schärpen, Bändern und Kreuzen unter Musikbegleitung vor dem Stadthause erschienen, auf der Ehrentreppe desselben ein weißes Banner mit der Aufschrift „Liebet Euch untereinander!“ neben den roten Fahnen der Kommune aufpflanzten und gelobten, durch ihr Erscheinen vor der Front der Versailler Truppen Versöhnung und Frieden zu erwirken. In schwungvoller Rede belobte Pyat dieselben ob ihrer edlen Absicht und feuerte sie an, wenn ihre friedlichen Versöhnungsversuche scheitern sollten, den Worten Thaten folgen zu lassen.

Noch mehr aber als die Nichtbeachtung dieses seines Mahnwortes seitens der Freimaurer, betrübte es ihn sodann, daß bei der von ihm besonders stürmisch begehrten Zerstörung der Vendômesäule auf allen jenen Theaterapparat verzichtet wurde, den er ausgesonnen hatte. Umsonst hatte er empfohlen, einen ungeheuern Misthaufen herzurichten, auf den die Säule gestürzt werden sollte. Und der alte Dramaturg klagte bitterlich, daß unser Geschlecht sich nicht mehr auf die Symbolik von 1793 verstehe: eine Familienmutter hätte den ersten Hammerschlag thun, ein Kind die Geschichte des Kaiserreichs verbrennen, das ganze französische Volk mit Friedensgeräthen dem Schauspiele anwohnen sollen!

Die letzten Tage der Kommune waren herbeigekommen, alle Besitzer von Schwefel, Phosphor und ähnlichen Erzeugnissen durch das Amtsblatt der Kommune aufgefordert, sich zu melden; Paris sollte wie einst Moskau „rostoptschinirt“[1] werden; und F. Pyat

  1. Graf Rostoptschin hat als Gouverneur von Moskau 1812 die Niederbrennung der Stadt angeordnet.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_275.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)