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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

betäuben, und er war ja auch nur ausgegangen, um im Freien und allein zu sein.

Der junge Majoratsherr redete sich allerdings ein, es sei nur das Wiedersehen des Jugendfreundes, das ihn so aus der Fassung brachte. Zehn volle Jahre hatte er nichts von Hartmut gehört, durfte er ihn nicht einmal nennen daheim, und nun sah er den Verschollenen plötzlich wieder, im Glanze eines aufsteigenden Dichterruhms, wohl tief und mächtig verändert in Erscheinung und Auftreten, aber trotz alledem doch der Hartmut, mit dem er so oft die Knabenspiele getrieben. Er hätte ihn auch unvorbereitet im ersten Augenblick wiedererkannt.

Wallmoden freilich schien durch den gestrigen Erfolg sehr peinlich berührt zu sein. Er hatte kaum gesprochen auf der Rückfahrt, so wenig wie seine Frau, die schon im Wagen erklärte, die Hitze im Theater habe ihr einen heftigen Kopfschmerz verursacht, und sich sofort nach der Nachhausekunft zurückzog. Der Gesandte folgte ihrem Beispiel, und als er seinem Neffen, der ihm gute Nacht wünschte, die Hand reichte, sagte er kurz:

„Es bleibt bei unserer Abrede, Willibald, Du schweigst gegen jeden, wer es auch sei! Sieh zu, daß Du Dich nicht verräthst, denn der Name Rojanow wird in den nächsten Tagen wohl in aller Mund sein! Er hat auch diesmal Glück gehabt, wie alle Abenteurer.“

Willibald hatte die Bemerkung schweigend hingenommen, aber er fühlte doch, daß es noch etwas anderes war, was dem Dichter der „Arivana“ diesen Erfolg schuf. Unter anderen Umständen hätte er dies Werk als etwas Unerhörtes, Unbegreifliches angestaunt, ohne es zu verstehen, aber gestern war ihm merkwürdigerweise das Verständniß dafür aufgegangen.

Man konnte sich verlieben auch ohne die feierliche Zustimmung der geehrten Eltern, Vormünder und Verwandten, das kam nicht bloß in Indien vor, das geschah bisweilen auch hier zu Lande. Man konnte sich auch unvorsichtigerweise mit einem Gelübde übereilen und es brechen, aber was dann? Ja, dann kam das Verhängniß, das Hartmut so grausig und doch so schön geschildert hatte! Willy war im vollen Ernste dabei, den hochromantischen Inhalt von „Arivana“ in Burgsdorfer Verhältnisse zu versetzen, und das Verhängniß nahm dabei unverkennbar die Züge der Frau von Eschenhagen an, die in ihrem Zorne jedenfalls noch grimmiger war als eine wüthende Priesterkaste.

Der junge Majoratsherr seufzte tief auf. Er dachte an den zweiten Akt des Dramas, wo aus dem Kreise der Hindumädchen, die zur Opferstätte zogen, eine zarte Gestalt hervorgetreten war, unendlich reizend in den weißen Schleiergewändern und mit dem Blumenkranz in den Locken. Seine Augen hatten wie gebannt an ihr gehangen, die nur zwei- oder dreimal flüchtig auf der Bühne erschien; aber dann erklang ihr Lied am Ufer des mondschimmernden Flusses, dann erklang die helle, süße Stimme, die schon damals in Waldhofen den Zuhörer so bestrickt hatte, und nun war das alte Unheil, das er niedergekämpft und vergessen wähnte, auf einmal wieder da. Es stand riesengroß vor ihm, und das Schlimmste war, daß er es gar nicht mehr als ein Unheil ansah.

Der unermüdliche Spaziergänger kam nun schon zum dritten Male an einem kleinen Tempel vorbei, der an der Vorderseite offen war und in dessen Mitte eine Büste stand, während im Hintergrunde eine Bank zum Sitzen einlud. Willibald trat diesmal ein und ließ sich nieder, weniger aus Ruhebedürfniß, als um noch ungestörter seinen Gedanken nachzuhängen.

Es mochte zehn Uhr morgens sein und die Anlagen waren um diese Stunde fast ganz leer und einsam. Nur ein einzelner Spaziergänger, ein junger Mann in vornehmer Kleidung, schlenderte langsam und scheinbar absichtslos in den Wegen umher. Er mußte aber doch wohl jemand erwarten, denn er blickte mit offenbarer Ungeduld bald nach der Stadt und bald nach der Parkstraße, die in ziemlicher Entfernung die Anlagen begrenzte. Plötzlich aber schritt er rasch auf den Tempel zu und faßte an der Hinterwand desselben Posten, wo er nicht gesehen werden konnte, während er selbst den vorüberführenden Pfad im Auge behielt.

Nach etwa fünf Minuten kam eine junge Dame von der Stadt her, eine leichte, zierliche Gestalt, in dunklem Mantel und Pelzkragen, ein Pelzmützchen auf die krausen Locken gedrückt und einen Muff in der Hand, aus dem eine Notenrolle hervorblickte. Sie wollte rasch vorübergehen, ließ aber plötzlich einen Ausruf der Ueberraschung hören, der freilich nichts weniger als freudig klang:

„Ah – Graf Westerburg!“

Der junge Mann war hervorgetreten und verneigte sich.

„Welch ein glücklicher Zufall! Wie konnte ich ahnen, daß Fräulein Marietta Volkmar so früh schon in den Anlagen lustwandeln würde!“

Marietta war stehengeblieben und sah den Sprechenden von oben bis unten an, aber ihre Stimme hatte einen halb gereizten, halb verächtlichen Ton, als sie antwortete:

„Ich glaube nicht an diesen Zufall, Herr Graf, dazu kreuzen Sie zu oft und zu beharrlich meinen Weg, obgleich ich Ihnen doch hinreichend gezeigt habe, wie lästig mir Ihre Aufmerksamkeiten sind.“

„Ja, Sie sind unendlich grausam gegen mich!“ sagte der Graf vorwurfsvoll, aber doch mit unverkennbarer Dreistigkeit. „Sie nehmen meine Besuche nicht an, verschmähen meine Blumengaben, erwidern nicht einmal meinen Gruß mehr bei einer Begegnung. Was habe ich Ihnen denn gethan? Ich habe es gewagt, Ihnen eine Huldigung zu Füßen zu legen in Gestalt eines Schmuckes, den Sie leider zurücksandten –“

„Mit der Erklärung, daß ich mir solche Unverschämtheiten ein für allemal verbitte,“ unterbrach ihn das junge Mädchen heftig. „Ich verbitte mir überhaupt Ihre fortwährenden Dreistigkeiten. Sie haben mir ja hier förmlich aufgelauert, wie es scheint.“

„Mein Gott, ich wollte ja nur um Verzeihung bitten wegen jener Kühnheit,“ versicherte Graf Westerburg, anscheinend unterwürfig, aber dabei trat er zugleich mitten in den schmalen Weg, so daß es nicht möglich war, an ihm vorbeizukommen. „Ich hätte es freilich wissen können, daß Sie unnahbar sind für jeden, und daß keine ihren Ruf so eifersüchtig hütet wie Sie, schöne Marietta!“

„Ich heiße Fräulein Volkmar!“ rief Marietta zornig. „Sparen Sie solche vertrauliche Anreden für diejenigen, die sich dergleichen gefallen lassen. Ich thue es nicht, und wenn Ihre Zudringlichkeiten nicht aufhören, so werde ich anderweitigen Schutz in Anspruch nehmen.“

„Welchen Schutz?“ spottete der Graf. „Vielleicht den der alten Dame, bei der Sie leben, und die sonst immer und überall an Ihrer Seite ist, wo Sie auch erscheinen? Nur bei Ihrem Gange zu dem Professor Marani bleibt sie zurück; die Gesangsstudien bei dem alten Herrn sind allerdings nicht gefährlich, das ist aber auch der einzige Weg, den Sie allein machen.“

„Sie wußten es also, daß ich um diese Zeit nach der Parkstraße gehe? Das ist ja ein vollständiger Ueberfall! Gehen Sie mir aus dem Wege, ich will fort!“

Sie versuchte an ihm vorbeizukommen, aber der junge Mann breitete beide Arme aus, so daß er den Weg völlig versperrte.

„Sie werden mir doch erlauben, Sie zu begleiten, mein Fräulein? Sehen Sie nur, die Anlagen sind ganz einsam und verlassen; es ist kein Mensch in der Nähe, da muß ich Ihnen wirklich meinen Schutz anbieten.“

Der Park schien in der That völlig menschenleer zu sein und eine andere wäre durch diesen Hinweis auf ihre Schutzlosigkeit wohl eingeschüchtert worden; die kleine, tapfere Marietta aber richtete sich unerschrocken auf.

„Unterstehen Sie sich nicht, mir auch nur einen Schritt zu folgen!“ rief sie in voller Empörung. „Ihre Begleitung ist mir ebenso unerträglich wie Ihre Persönlichkeit – wie oft soll ich Ihnen das noch sagen?“

„Ei, so zornig?“ fragte der Graf, mit einem boshaften Lächeln. „Nun, ganz umsonst will ich diesen ‚Ueberfall‘ doch nicht gewagt haben, wenigstens soll er mir einen Kuß eintragen von diesen reizenden, feindlichen Lippen.“

Er machte wirklich Miene, seinen Vorsatz auszuführen, und näherte sich dem hastig zurückweichenden Mädchen, aber in dem selben Augenblick flog er auch, von einem furchtbaren Stoße getroffen, seitwärts und stürzte dann der Länge nach auf den feuchten Boden hin, wo er in einer sehr kläglichen Stellung liegen blieb.

Marietta hatte sich erschrocken umgewendet bei diesem ebenso unerwarteten als stürmischen Beistande, und ihr von Zorn und Kränkung heißgeröthetes Gesicht nahm den Ausdruck einer grenzenlosen Ueberraschung an, als sie den Helfer erkannte, der an ihrer Seite stand und so grimmig auf den Daliegenden blickte, als habe er die größte Lust, ihm den Garaus zu machen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 282. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_282.jpg&oldid=- (Version vom 19.5.2021)