Seite:Die Gartenlaube (1890) 293.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 10.   1890.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Madonna im Rosenhag.

Roman von Reinhold Ortmann.

(Fortsetzung.)

Mit einiger Verwunderung blickte Marie zu ihrem Onkel auf, als er nach der Entfernung Engelberts und Cillys ganz unvermittelt in einem väterlich herzlichen Tone sagte: „Sie haben ja nun Gelegenheit gehabt, liebste Marie, meine Cilly kennen zu lernen, die Ihnen nach so langer Trennung wohl eine völlig Fremde geworden war. Bekennen Sie mir doch recht aufrichtig, ob Sie sich mit dem kleinen Sprudelköpfchen befreunden zu können glauben!“

„Cilly hat mich mit Liebenswürdigkeiten buchstäblich überschüttet, und ich müßte sehr undankbar sein, wenn ich nicht die herzlichste Zuneigung für sie empfände.“

„Wirklich? Sie glauben nicht, wie sehr mich das erfreut! Es macht mir endlich Muth, Ihnen den Wunsch auszusprechen, den ich schon seit unserem ersten Wiedersehen auf dem Herzen trage. Ich habe es oft beklagt, daß das Schicksal meiner Cäcilie die natürlichste und beste Freundin in Gestalt einer Schwester versagt hat. Bei ihrer Ausgelassenheit und ihrer oft geradezu bedenklichen Neigung, der ersten besten tollen Eingebung zu folgen, würde ich mir von dem freundschaftlichen Einfluß einer ruhigeren und abgeklärteren Natur die allergünstigste Wirkung versprechen, und es würde mich sehr glücklich machen, wenn Sie, liebe Marie, sich entschließen könnten, ihr fortan die fehlende Schwester zu ersetzen.“

Die junge Malerin verstand wohl nicht sogleich seine ganze Meinung. „Wenn Cilly das unbedeutende Geschenk meiner Freundschaft nicht verschmäht, soll es ihr mit tausend Freuden gehören,“ sagte sie einfach.

Der General aber drückte ihr mit einer sehr dankbaren Miene die Hand.

„Und Sie willigen ein, uns künftig – das heißt, schon von diesem Tage an, eine liebe Hausgenossin zu werden, nicht wahr? Die Tochter des Obersten von Brenckendorf, der nicht nur mein naher Verwandter, sondern auch mein bester und treuester Jugendfreund war, hat von vornherein ein Recht darauf, mein Haus wie ein Vaterhaus zu betrachten. Es hat mich aufrichtig betrübt, daß Sie sich in der langen Zeit dieses Rechtes nicht ein einziges Mal erinnert zu haben scheinen.“

Mariens Athem ging schneller und ihre Augen glänzten vor innerer Bewegung.

„Das ist ein großmüthiges Anerbieten,“ sagte sie, „zu großmüthig vielleicht, als daß ich daran denken dürfte, es anzunehmen.“

„O, ich hoffe, Sie werden mich nicht mißverstehen! Von irgend welcher Großmuth ist da nicht die Rede, und ich habe Ihnen kein Geheimniß daraus gemacht, daß ich sogar recht eigennützige Nebengedanken habe. Außerdem aber, liebe Marie – Ihr unvergeßlicher Vater hat mir einst in seinen jungen Jahren

Mittenwalderin.
Studienkopf von F. Prölß.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 293. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_293.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2021)