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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Dienste erwiesen, für die ich mich niemals werde genügend dankbar zeigen können. Es wäre mir geradezu eine Kränkung, wenn Sie mich der Möglichkeit beraubten, es auch nur zu versuchen.“

Hätte er ihr bei seinem ersten Besuch, ja, hätte er ihr noch vor einer Stunde diesen Vorschlag gemacht, sie würde ihn sicherlich zurückgewiesen haben unter dem Eindruck der unbesieglichen Empfindung, daß es doch nur eine nothdürftig verschleierte Wohlthat sei, welche man ihr da erweisen wolle. Jetzt aber regte sich neben dieser peinlichen Empfindung eine Stimme in ihrem Herzen, welche sie mit sehr einschmeichelnden Gründen überreden wollte, daß ihr Sträuben eine Thorheit und ihr Ablehnen wirklich eine Beleidigung sein würde für den General. Konnte es denn nicht Wahrheit sein, was er von seiner Dankesschuld gegen ihren verstorbenen Vater sagte? Sie wußte, daß er als junger Offizier der bei weitem ärmere von beiden gewesen war und daß ihn erst seine Heirath in den Besitz großer Reichthümer gebracht hatte. Lag es da nicht sehr nahe, anzunehmen, daß ihr Vater, dessen Hilfsbereitschaft für seine Freunde stets weit über sein Vermögen hinaus ging, ihn oft genug thatkräftig unterstützt und vielleicht sogar aus schlimmen Verlegenheiten gerettet habe? Und war es nicht am Ende ganz natürlich, daß er der Tochter des Freundes heimzahlte, was er dem Freunde selbst nicht mehr vergelten konnte? Wohl vermochte sie selber nicht recht an die Stichhaltigkeit solcher Erwägungen zu glauben; aber es gab da noch ein Uneingestandenes, Mächtiges in ihrem Innern, das sie mit zwingender Gewalt verhinderte, die erste, rasche Weigerung aufrecht zu erhalten. Sie hatte ihren Fuß in das gelobte Land des Reichthums gesetzt, sie hatte sich für wenig Stunden umschmeichelt gefühlt von allen Annehmlichkeiten eines vornehmen, sorgenlosen Daseins, und sie betrachtete diese Welt des Glanzes nicht mehr, wie es noch gestern der Fall gewesen war, mit halb wehmüthiger und halb heiterer Entsagung, sondern mit einer brennenden Sehnsucht, deren qualvolle Bitterkeit sie ja erst vor wenig Minuten in ihrer ganzen Stärke empfunden hatte.

Sie kämpfte mit sich selber; aber der Kampf war kurz und sein Ausgang war von vornherein entschieden. Als der General, welcher taktvoll genug gewesen war, ihr einige Minuten des Nachdenkens zu gönnen, mit eindringlicher Herzlichkeit seine Frage wiederholte, antwortete sie ihm mit einem zaghaft geflüsterten Ja, und die Anwandlung von Reue, die ihr noch in dem nämlichen Augenblick kommen wollte, verflüchtigte sich schnell, als er – einen väterlichen Kuß auf ihre Stirn hauchend – sagte:

„Ich wußte ja, daß Sie zu edel denken, um sich durch kleinliche Regungen eines falschen Stolzes zu einem unfreundlichen Nein bestimmen zu lassen, und ich hoffe, daß Sie die Entschließung dieser Stunde niemals bereuen werden!“

Als hätte sich Seine Excellenz just für den rechten Augenblick die erwünschte Unterbrechung bestellt, erschien Friedrich in der Thür, um einen Besuch von dienstlichem Charakter zu melden. Der General entschuldigte sich und bat Marie um die Erlaubniß, sie zu seiner Gemahlin führen zu dürfen. Im Vorzimmer aber stießen sie auf den eben heimgekehrten Lothar, und nachdem der General mit wenig raschen Worten die Wiederanknüpfung der Bekanntschaft vermittelt hatte, ließ er sie mit ihm allein.

Marie fühlte dem älteren Vetter gegenüber nichts von jener athembeklemmenden Verlegenheit, von welcher sie vorhin bei dem Eintritt Engelberts zu ihrem eigenen Verdruß überrascht worden war. Sie hatte ihm ganz unbefangen in das ernste Gesicht gesehen, und seine unschönen Züge hatten ihr unwillkürlich Cillys unbarmherzige Worte ins Gedächtniß zurückgerufen, daß ihr Bruder Lothar einer von denen sei, die niemals eine Frau bekommen. In der That, es war sehr wenig wahrscheinlich, daß ein Mann von solchem Aussehen der Ruhe eines weiblichen Herzens jemals gefährlich werden könnte, und Marie empfand eine stille Heiterkeit bei der Erinnerung an den Vorschlag, welchen die übermüthige Cilly jenen Worten angefügt hatte.

Aeußerlich freilich zeigte sie wenig von dieser guten Laune. Es war ihrem Gefühl nach etwas so Steifes und Erkältendes in dem Wesen Lothars, daß auch sie unwillkürlich eine vornehme und gemessene Haltung annahm. Cillys überschwängliche Zärtlichkeit und der kameradschaftlich vertraute Ton, welchen Engelbert ohne weiteres angeschlagen, hatten sie so rasch heimisch gemacht in diesem Hause, daß sie die ruhige Höflichkeit Lothars fast wie etwas Verletzendes empfand. Er sagte ihr keine Artigkeit über ihr Aussehen oder ihre künstlerischen Talente wie die andern, sondern er hielt es zu ihrer unangenehmen Verwunderung für angemessen, nach wenigen gleichgültigen Redensarten ein ziemlich ernsthaftes Thema anzuschlagen.

„Ich kann wohl annehmen,“ äußerte er, „daß Sie einigen Einfluß auf Ihren Bruder besitzen, und ich möchte Sie bitten, sich dieses Einflusses in einem ganz bestimmten Sinne zu bedienen.“

Zum ersten Male schoß es Marie bei dieser Erwähnung Wolfgangs durch den Sinn, daß bisher keines von den anderen ihres Bruders gedacht hatte, und daß man stets schnell darüber hinweg gegangen war, wenn sie einmal bei diesem oder jenem natürlichen Anlaß seinen Namen genannt hatte. Sie hatte dieser Erscheinung kein Gewicht beigelegt, und in einem eigenthümlichen Trotzgefühl, für das sie selber keine rechte Erklärung hatte, fühlte sie sich jetzt fast geneigt, ein gleiches zu thun.

„Einfluß?“ wiederholte sie kühl. „Ich glaube kaum, daß man es so nennen darf. Jedenfalls ist er der ältere von uns beiden, und ich denke nicht daran, ihn irgendwie bevormunden zu wollen.“

„Das muthe ich Ihnen nicht zu. Aber Wolfgang ist im Begriff, einen Entschluß zu fassen, der auch Sie nahe berührt. Er will mit dem Beginn seiner zahnärztlichen Wirksamkeit den Freiherrntitel und das Adelsprädikat ablegen. Ich kann mir nicht denken, daß Sie mit dieser Verleugnung seiner Herkunft einverstanden seien.“

Das war wieder derselbe überlegene und – wie sie es im Stillen nannte – schulmeisterliche Ton, durch welchen er schon das siebenjährige Mädchen geärgert hatte. Sie warf den Kopf ein wenig in den Nacken und sagte sehr bestimmt:

„Ich billige seine Absicht im Gegentheil vollkommen! Man darf nicht davor zurückschrecken, die Folgerungen seiner eigenen Handlungen zu ziehen. Wenn von einer Verleugnung seiner Herkunft überhaupt die Rede sein kann, so machte mein Bruder sich derselben nicht erst jetzt, sondern viel eher schon damals schuldig, als er sich einem Beruf zuwandte, welcher schwerlich die Zustimmung seiner Familie, wenigstens sicherlich niemals diejenige meines Vaters gefunden haben würde. Es erscheint mir nur als eine richtige Würdigung der Sachlage, wenn Wolfgang nun auch den zweiten Schritt auf dem einmal eingeschlagenen Wege thut.“

Lothar sah sie in ehrlichstem Erstaunen mit großen Augen an.

„Und das wäre Ihre wirkliche Meinung? Sie lebten wahrhaftig in dem Glauben, daß es irgend eine anständige Art des Erwerbs gäbe, die einen Mann von adliger Geburt in der Achtung vernünftiger Leute herabsetzen könnte?“

Der Verdruß über die Zurechtweisung, deren er sich unterfing, trieb ihr das Blut in die Wangen.

„Wenn ich mich wirklich zu diesem thörichten Glauben bekennen müßte, möchten Sie mir nicht freundlich gestatten, bei demselben zu verharren?“

„Ich bedaure von ganzem Herzen, daß es ein Irrthum war, als ich in Ihnen eine Bundesgenossin gegen den Eigensinn meines Freundes zu finden hoffte. Ich bedaure es auch um Ihretwillen, denn die Art, in welcher das Leben uns früher oder später solcher Vorurtheile entwöhnt, pflegt in der Regel eine ziemlich schmerzhafte zu sein.“

Marie preßte die Lippen zusammen, als müßte sie gewaltsam eine heftige Entgegnung zurückdrängen. Lothar aber mußte das nicht wahrgenommen haben, denn er fuhr ruhig fort:

„Uebrigens zweifle ich noch immer, daß Sie in Wahrheit Ihrer innersten Ueberzeugung Ausdruck gegeben haben. Sie bringen sich ja in einen Widerspruch mit Ihrer eigenen Handlungsweise, denn ich weiß aus Wolfgangs Munde, daß Sie in rühmlichem Streben nach Unabhängigkeit nicht verschmähten, mit der Arbeit Ihrer Hände Ihren Unterhalt zu verdienen.“

Mit einer stolzen Bewegung wandte sich Marie zur Thür.

„Sie zürnen mir?“ fragte Lothar, ohne eine besondere Bestürzung zu verrathen. „Wollen Sie mir nicht das verwandtschaftliche Recht einräumen, ehrlich zu sein?“

„Ehrlich?“ – Sie wandte ihm das blonde Köpfchen zu, und er sah, wie der mühsam unterdrückte Unwille aus ihren schönen Augen sprühte. „Ich erwarte von jedem, daß er ehrlich gegen mich ist, nicht nur von meinen Verwandten. Aber ich werde nicht jeder beliebigen Unzartheit und Rücksichtslosigkeit gestatten, sich hinter dies wohltönende Wörtchen zu flüchten!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_294.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)