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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Sie bereute die unfreundliche Erwiderung, fast ehe sie ausgesprochen war. Hätte Lothar jetzt ein einziges freundlich einlenkendes Wort der Entschuldigung gehabt, so wäre der peinliche Eindruck dieses ersten, unerfreulichen Gespräches durch eine Unterhaltung über unverfänglichere Dinge vielleicht noch zu verwischen gewesen; aber Lothar erwiderte nichts und machte keinen Versuch, sie zu halten. Nach einem flüchtigen Zaudern ging sie hinaus, von Herzen froh, Cillys muntere Stimme schon wieder in einem benachbarten Zimmer zu vernehmen.

Bei der Mittagstafel, die um fünf Uhr abgehalten wurde, brachte der General, nachdem er dem aufwartenden Diener zugewinkt hatte, sich zu entfernen, Mariens Gesundheit aus und machte dabei mit einigen geschickten, herzlich klingenden Worten den Seinigen die Mittheilung von der bevorstehenden Vergrößerung des Familienkreises. Außer der Generalin, welche Marie mit vollen Backen freundlich zunickte, schien niemand etwas derartiges erwartet zu haben, aber die Begeisterung, mit welcher sowohl Cilly als Engelbert die Neuigkeit aufnahmen, war darum nur desto schmeichelhafter für die junge Malerin. Der Dragoner-Lieutenant, welcher an ihrer Seite saß, hatte sich erhoben, und während er, den Oberkörper tief herabneigend, sein Glas an das ihre klingen ließ, traf sie ein so beredter Blick seiner klaren Augen, daß sie in neuer Verwirrung die Lider senkte. Sie bemerkte darüber nicht, daß auch Lothar ihr den schäumenden Champagnerkelch entgegengestreckt hatte, und erst Cillys lachender Zuruf mußte sie darauf hinweisen. Sie wollte ihre Unachtsamkeit entschuldigen, denn sie fühlte ohnedies ein aufrichtiges Bedauern über ihr voriges Benehmen gegen Lothar, und es würde ihr sicherlich leicht geworden sein, ein scherzendes Wort des Schuldbekenntnisses und der Reue zu finden, wenn sie auch nur das geringste Anzeichen des Gekränktseins oder des Schmollens in seinen Mienen gelesen hätte. Aber es war eine so gelassene Freundlichkeit in der Art, wie er ihr zutrank, ein – wie sie meinte – so überlegen huldvoller Ausdruck des Wohlwollens in seinen Augen, daß sie trotz aller guten Vorsätze nicht zur Ausführung ihrer Absicht gelangte, und daß es bei einem kurzen, wortlosen Zusammenstoßen der Gläser sein Bewenden hatte.

Und fast derselbe Vorgang wiederholte sich, als Cilly, von den neckischen Geistern des Weines nur noch übermüthiger gemacht, gegen das Ende des Mahles plötzlich ausrief:

„Aber ist es nicht furchtbar komisch, Marie, daß sie Dich alle so förmlich mit Sie anreden, als wärest Du nicht eine leibliche Nichte und Base, sondern irgend eine Prinzessin von Trapezunt? Auf, füllt Eure Gläser und trinkt Brüderschaft miteinander, wie sich’s gehört! – Auf unverbrüchliche Freundschaft und auf Du und Du!“

Engelbert warf einen raschen, forschenden Blick zu seinem Vater hinüber. Da aber das freundliche Lächeln nicht von dem Gesicht des Generals verschwunden war, nahm er Cillys Vorschlag sogleich mit gewohnter Lebhaftigkeit auf, und unter Scherz und Gläserklang wurden die heiteren Bräuche vollzogen.

„Den Bruderkuß dürft Ihr Euch schenken!“ sagte Cilly, „das thue ich für Euch alle!“

Und sie küßte Marie auf den Mund, daß es schallte.

Zwischen Lothar und seiner jungen Verwandten aber war auch jetzt kein Wort gewechselt worden, und so glücklich sich auch Marie im Kreise dieser prächtigen, liebevollen Menschen fühlte, mit so unumstößlicher Gewißheit stand es doch in ihrem Herzen fest, daß der Anblick dieses klugen, ernsten Gesichts mit seiner unveränderlichen, beleidigenden Ruhe stets einen Tropfen Wermuth in den Becher ihrer Freude träufeln würde.

Es war merkwürdig, daß sie sich trotzdem ein paar Minuten lang aufrichtig ärgerte, als Lothar bald nach aufgehobener Tafel aus dem Familienkreise verschwunden war. Natürlich sah sie darin nur einen neuen Beweis angeborener Unhöflichkeit, und sie faßte im Stillen den feierlichen Entschluß, ihn fortan auch ihrerseits mit vollkommener Gleichgültigkeit zu behandeln.

Engelbert hatte ohne weiteres auf seine geliebte Cigarre verzichtet, um die beiden jungen Damen auf dem Spaziergang im Wintergarten zu begleiten, zu welchem Cilly plötzlich Lust verspürt hatte. Als seine Schwester dann für eine kurze Zeit abgerufen wurde, wußte er Marie sehr geschickt mit dem Hinweis auf einige besonders prächtig blühende Orchideen zurückzuhalten. Seine botanischen Kenntnisse waren äußerst gering und er bemühte sich durchaus nicht, diese Lücke in seinem Wissen heuchlerisch zu verhüllen; aber die Unzahl drolliger Bemerkungen, mit denen er bei offenem Eingeständniß seiner mangelhaften Bildung diese oder jene Pflanze zu kennzeichnen versuchte, erschien Marie ungleich unterhaltender, als es selbst die gründlichsten und geistreichsten wissenschaftlichen Belehrungen sein konnten.

Sie waren zuletzt vor einer Königspalme von seltener Schönheit stehen geblieben, deren herrlich entwickelte Krone sich fast unmittelbar unter dem Glasdach des Wintergartens ausbreitete.

„Wie heißt es doch in des wackeren Simon Dach unsterblichem Liede vom Aennchen von Tharau?“ fragte Engelbert. „Ist da nicht auch von einem Palmbaum die Rede?“

„Ja,“ erwiderte Marie arglos, und mit halblauter Stimme sprach sie, das liebliche Antlitz sinnend zu der Krone des schlanken Stammes emporgerichtet, die einfachen, innigen Verse:

„Recht als ein Palmenbaum über sich steigt,
Je mehr ihn Regen und Hagel anficht:
So wird die Lieb’ in uns mächtig und groß
Durch Kreuz, durch Leiden, durch allerlei Noth.
Aennchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“

„Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“ wiederholte Engelbert, sie mit seinen heißen Blicken fast verzehrend. Und dann, einem unbezwinglichen Verlangen seines vom Wein erregten Blutes nachgebend, beugte er sich über das holdselige Mädchenantlitz herab und küßte sie auf den Mund.

Mit halb geschlossenen Augen duldete Marie die Liebkosung, ohne sie zu erwidern. Aber als er nun seinen Arm um ihre Gestalt legen und sie fester an sich ziehen wollte, machte sie sich los und flüchtete bis an den Eingang des Wintergartens zurück. Ihre Wangen glühten, und halb abwehrend, halb bittend hatte sie beide Hände erhoben.

„O, nicht so, Engelbert, nicht so!“ sagte sie leise. „Ich bitte Dich von ganzem Herzen!“

Der Dragoner hatte bei ihrem raschen Entweichen etwas verblüfft und unbehaglich dreingeschaut, denn er fürchtete vielleicht, daß sie einen peinlichen Auftritt herbeiführen würde. Jetzt aber leuchtete es glückstrahlend und siegesgewiß in seinem hübschen Gesicht.

„Ich hätte es ja leicht, mich zu entschuldigen,“ erwiderte er, seine Stimme nun ebenfalls dämpfend und ihr langsam näher tretend, „denn Du warst mir den Bruderkuß noch immer schuldig geblieben. Aber ich liebe die hinterlistigen Küsse nicht, und so kann ich zu meiner eigenen Rechtfertigung nur den alten Königsberger Professor anklagen und dies ungestüme, ungebärdige Herz da in meiner Brust!“

„Seid Ihr denn noch immer hier?“ schallte es von der Glasthür her. „Mein Gott, welch merkwürdige Dinge müßt Ihr Euch zu erzählen haben!“

Ein flehender Blick aus Mariens schimmernden Augen, auf deren feuchtem Grunde er gut genug ein gar verheißungsvolles Leuchten sah, traf das Antlitz Engelberts. Sie hatte keine Zeit mehr gehabt, ihm zu antworten, doch auch dieser Blick war eine Antwort gewesen, deren Deutlichkeit ihm wohl genügen mußte.

„Gewiß, äußerst merkwürdig!“ bestätigte er lächelnd der eintretenden Cilly. „Wir haben eine Probe gemacht auf das berühmte Wort, daß man nicht ungestraft unter Palmen wandle.“

Er führte die Damen hinaus, und bald nachher verabschiedete sich Marie, um noch einmal, zum letzten Mal, in ihr bisheriges Heim zurückzukehren. Es gab ja noch mancherlei zu ordnen und herzurichten, ehe ihre Uebersiedelung in das Haus des Generals erfolgen konnte, und sie hatte sich darum in lebhaftem Kampfe gegen Cillys Drängen eine dreitägige Frist für diesen Schritt ausgebeten, der eine so wichtige Wendung in ihrem Leben bedeutete.

Fast überwältigt von den zauberischen Eindrücken dieses Tages lehnte sie das Köpfchen in die bequemen Polster des Wagens zurück. Sie fühlte sich todmüde, aber ein seliges Lächeln war auf ihren Lippen. Vor ihr lag die Zukunft wie ein unendlicher blühender, sonnenbeschienener Garten, und sie war so glücklich, so über alles irdische Maß hinaus glücklich, wie es eben nur ein junges Menschenherz sein kann, dem sich das Wunder der ersten Liebe erschlossen hat.


Ueber Nacht war der erste Winterschnee gefallen, und nun blies um die Mittagsstunde bei unbewölktem Himmel der Wind recht unwirthlich und rauh in die weiß verhüllten Straßen. Mit vorgebeugtem Kopfe kämpfte sich Joseph Hudetz, von dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_295.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)