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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Die Heilung des Stotterns wurde bisher vielfach als Geheimniß behandelt und die Wissenden ließen es sich theuer bezahlen. Durch die Schriften der Taubstummenlehrer Gutzmann in Berlin, Günther in Neuwied etc. ist das Heilverfahren allgemein bekannt geworden, und in verschiedenen Städten Deutschlands hat die Behörde nach diesem Verfahren unentgeltliche Heilkurse für stotternde Schulkinder eingerichtet, so in Potsdam, Braunschweig, Dresden, Elberfeld etc. Rudolf Denhardts Verdienste um die Heilung des Stotterns sind schon früher in der „Gartenlaube“ hervorgehoben worden, und von ihm wird auch demnächst ein Buch darüber, „Das Stottern. Eine Psychose“ (mit Illustrationen), im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger erscheinen.

Aber auch der großen Zahl jener Bedauernswerthen, die in späteren Jahren schwerhörig geworden oder ertaubt sind, wird durch die Arbeit der Taubstummenanstalten ein gutes Verständigungsmittel mit ihrer Umgebung geboten. Wie die Taubstummen, so vermögen auch sie die Kunst zu erlernen, mit den Augen von den Lippen anderer das gesprochene Wort abzulesen. Es beruht dies auf der Thatsache, daß jeder deutlich gesprochene Laut eine besondere Mundstellung erfordert. Man trete vor einen Spiegel und beobachte sich beim Sprechen. Mit derselben Mundstellung, mit der ich ein reines a ausspreche, kann ich kein reines o sprechen. Beim a ist der Mund vollständig geöffnet, beim o werden die Lippen etwas vorgeschoben, wodurch sich die Mundöffmung etwas verengert, und noch mehr ist dies der Fall, wenn ich u spreche. Beim e ist die Mundstellung breit und beim i treten die Mundwinkel noch weiter zurück. Wieder andere Mundstellungen erfordern die Konsonanten. Man spreche vor dem Spiegel b, d, f, l, s, sch, k etc, und man wird deutlich die veränderte Mundstellung bemerken können. Mitunter sind diese Unterschiede freilich ziemlich unbedeutend; aber selbst die Laute, die mehr im Innern des Mundes gebildet werden, lassen sich doch durch scharfes Beobachten erkennen, da sie äußerlich auch das Gesicht in Mitleidenschaft ziehen. Man beobachte sich z. B. beim Sprechen des n und ng. Das im Gaumen gebildete verkümmerte r ist nicht sichtbar, wohl aber das richtige mit der Zungenspitze gesprochene r, das ja auch von Sängern und Rednern angewendet wird.

Wie nun die gedruckten Buchstaben ganz bestimmte Formen haben, an denen wir jeden einzelnen sofort erkennen, so nehmen die Laute auch beim Sprechen ganz bestimmte, sichtbare Formen an, die vom Munde abgelesen werden können.

Freilich, das Ablesen vom Munde ist viel, viel mühsamer zu erlernen, als das Lesen der Buchstaben und Zusammenlesen derselben zu Wörtern und Sätzen. Die gedruckten oder geschriebenen Buchstaben stehen immer vor dem Auge sichtbar da, die Mundstellungen beim Sprechen lassen sich aber nicht festhalten; sie wechseln schnell und erschweren dadurch ein leichtes Auffassen. Daß es aber möglich ist, dafür liefert jede deutsche Taubstummenanstalt hinreichende Beweise. Fast alle Zöglinge lernen dies Ablesen vom Munde. Die Minderbegabten und die Schwachsichtigen natürlich in geringerem Grade als die befähigten und gut sehenden Schüler.

Das Sprechenlernen der Taubstummen ist mit dem Ablesen eng verbunden. Der kleine Schüler ahmt die Mundstellung, die Veränderungen der Zunge, der Lippen etc. nach, er sieht und fühlt an der Brust, am Kehlkopf des Lehrers die durch das Sprechen hervorgebrachten Bewegungen; er fühlt den Hauch bei der Aussprache des Lautes, und nach langen Mühen seitens des Lehrers wie des Schülers gelingt es ihm, den gleichen Laut zu bilden und zu sprechen. Ohne auf diese Aufgabe des Taubstummenunterrichts hier weiter einzugehen, kehren wir wieder zur Kunst des Ablesens vom Munde zurück.

In vielen der größeren Taubstummenanstalten werden die Schüler in sogenannten A- und B-Klassen unterrichtet. In den ersteren sitzen die Befähigteren, namentlich auch die, welche noch etwas hören können oder die erst später ertaubt sind; in den letzteren befinden sich die schwächer Begabten. Tritt nun eine mit dem Taubstummenunterricht unbekannte Person in eine A-Klasse ein, so meint sie in den ersten Augenblicken, fehlgegangen zu sein und sich nicht in einer Taubstummenschule, sondern in einer gewöhnlichen Volksschule zu befinden. Es wird keine Gebärdensprache angewendet; der Lehrer spricht zu den Kindern, die Schüler antworten. Obwohl aber alles laut geredet wird, so hört doch keiner der Schüler das Gesprochene. Auch die, welche noch etwas Gehör haben, vernehmen nichts Zusammenhängendes, sondern höchstens einzelne Worte; sie würden ja sonst die Taubstummenschule nicht besuchen. Alle Schüler sehen gespannt auf den Mund des Sprechenden und lesen dort die Worte ab, wie andere Kinder dieselben von der Wandtafel oder dem Buche ablesen. Die Pulte sind im Halbkreis so gestellt, daß die Schüler sich alle auf den Mund sehen können, und der Lehrer steht oder sitzt so, daß volles Licht auf sein Gesicht fällt. Wendet er sich nach der einen Seite, so wird ihn ein Theil der Schüler nicht verstehen – er mag noch so laut sprechen – denn sobald sie von seinem Munde nicht mehr absehen können, sind seine Worte für sie verloren. In einfachen, leicht verständlichen Sätzen werden die Kinder in biblischer Geschichte, Religion, in Heimath- und Vaterlandskunde, in Naturgeschichte, im Rechnen etc. unterrichtet. Es wird, mit Ausnahme des Gesanges, in der Taubstummenschule fast alles das getrieben, was in der Volksschule getrieben wird, wenn auch nicht in derselben Ausdehnung. Dort lernen die Kinder durch das Ohr und das Auge, hier nur durch das Auge. Kein Wunder, daß der Unterricht in der Taubstummenschule viel langsamer vorwärtsschreitet und daß manche Frage mehrfach wiederholt werden muß, ehe der Schüler sie richtig auffaßt.

Am leichtesten liest der Taubstumme vom Munde seines Lehrers und seiner Mitschüler ab, denn er ist an deren Sprechen gewöhnt. Da aber jeder scharf und deutlich Sprechende die Laute auf dieselbe Weise, also fast genau dieselben Mundstellungen bilden muß, so gewöhnt sich der kleine Schüler nach und nach an das Sprechen fremder Personen, und viele Taube erlangen eine Fertigkeit im Absehen vom Munde, die in Erstaunen setzt. Sie vermögen nicht nur Worte, Fragen und kurze Sätze abzulesen, sie verstehen auch Geschichten, die ihnen erzählt, Ansprachen, Vorträge, die ihnen gehalten werden. Natürlich ist immer dabei zu beachten, daß der Sprechende nahe steht, daß sein Gesicht gut beleuchtet ist, daß er deutlich und nicht zu schnell spricht, daß er den Kopf nicht zu sehr bewegt. In weiterer Entfernung, bei Dunkelheit, bei undeutlichem Sprechen hört die Kunst des Ablesens auf. Dagegen bildet der Bart kein besonderes Hinderniß, sobald er nicht die Lippen überdeckt.

Was nun der Taubstumme erlernen kann, das vermag der Schwerhörige oder der in spätem Alter Ertaubte auch, wenn nicht nur er, sondern auch die mit ihm Verkehrenden genug Geduld und Ausdauer haben. Es gehört lange, lange Uebung dazu, um es nur zu einiger Fertigkeit zu bringen. Wie der Taubstumme, so wird auch der Schwerhörige am leichtesten die verstehen lernen, mit denen er am meisten zu thun hat. Und hier lohnt schon ein kleiner Erfolg reichlich die aufgewandte Mühe, denn auch eine kleine Fertigkeit im Ablesen vom Munde erleichtert ungemein den Verkehr zwischen dem Leidenden und seiner Umgebung.

Wie diese Kunst zu erlernen ist, wurde bereits angedeutet. Befindet sich im Orte eine Taubstummenanstalt, so wird gewiß ein Taubstummenlehrer gern die Unterweisung übernehmen, und der Erfolg wird nicht ausbleiben, wenn die nöthige Geduld vorhanden ist. Ist aber der Betreffende auf sich selbst und die Seinigen angewiesen, so studiere er zunächst im Spiegel, wie die einzelnen Laute sich bilden und welche Mundstellungen dabei vorkommen. Dann lasse er sich von befreundeten Personen, deren Sprechwerkzeuge, wozu auch die Zähne gehören, sich in gutem Zustande befinden, erst einzelne Laute, dann leichte Lautverbindungen vorsprechen und versuche dieselben abzulesen. Nun kommen Worte und kurze Sätze an die Reihe, es werden auch häufig vorkommende Redensarten etc. geübt. Ein bekannter Vers oder ein bekanntes kurzes Gedicht oder eine bekannte kleine Erzählung wird langsam vorgesprochen und der Inhalt dann abgefragt. Ohne inneren Zusammenhang werden bald vom Ende, bald vom Anfange daraus einzelne Worte, einzelne Sätze gesprochen. Später wird ein längeres Lesestück, dessen Inhalt aber dem Schwerhörigen schon bekannt ist, in ähnlicher Weise durchgenommen. Zuletzt werden auch vorher unbekannte Dinge besprochen.

So gewöhnt sich das Auge an scharfes Beobachten und lernt nach und nach die kleinen Unterschiede, die beim Sprechen sich am Munde, im ganzen Gesichte zeigen, festhalten. Entgeht ihm auch manchmal etwas, er wird den Zusammenhang errathen und immer sicherer in der Kunst des Ablesens vom Munde werden. H. E. Stötzner.     




Blätter und Blüthen.


Die Calema an der westafrikanischen Küste. (Mit Abbildung S. 317.) An den Flachküsten erzeugt das Meer eine eigenartige Brandung, welche die englischen Seefahrer mit dem Namen „surf“ bezeichnen; man beobachtet sie an den „Landes“ von Biscaya, im Busen von Bengalen, an der Ostküste von Amerika und auch in unserer Nord- und Ostsee, am vollendetsten aber ist sie an dem westafrikanischen Gestade ausgebildet und heißt hier „Calema“. Sie umgiebt das Land mit einem abschreckenden Gürtel, macht oft die Landung völlig unmöglich, und die Handelshäuser, welche in Westafrika ihre Faktoreien besitzen, sind gewohnt, mit ihr als einem nothwendigen Uebel zu rechnen, das stets den Verlust eines gewissen Prozentsatzes an Waren verursacht.

Die Calema ist eine ganz merkwürdige Erscheinung und großartig, wenn sie mit stärkerer Macht auftritt. Von einem etwas erhöhten Standpunkt aus erscheint alsdann dem Beobachter das glänzende Meer von breitgeschwungenen regelmäßigen Drehungen durchzogen, welche, durch Licht und Schatten abgezeichnet und unabsehbar sich dehnend, annähernd gleich mit der mittleren Strandlinie laufen. In mächtiger, aber ruhiger Bewegung drängen aus der Ferne die Wogen an die Küste heran und werden in dem flacher werdenden Wasser höher und höher. Durch die Reibung am Boden in seinem Fortschreiten gehemmt, verwandelt sich zuletzt der langgestreckte Wellenzug in einen vollständigen Roller, der sich mit seinem vorauseilenden oberen Theile nach vorn wölbt und nahe am Strande in einem schönen Bogen überfällt. Während eines Augenblicks gleicht die Masse einem flüssigen, durchscheinenden Tunnel, im nächsten bricht sie in gewaltigem Sturze donnernd und prasselnd zusammen. Dabei werden, wie bei Explosionen, durch die im Innern eingepreßte Luft Springstrahlen und blendende Wassergarben emporgetrieben, dann wälzt sich die schäumende wirbelnde Fluth am glatten Strande hinauf, um alsbald wieder wuchtig zurückzurauschen, dem nächsten Roller entgegen.

Die Zeichnung vermag nicht die Schönheit eines solchen Anblicks wiederzugeben.

Einen besonderen Reiz gewinnt das Schauspiel, wenn heftige Windstöße, etwa bei einem losbrechenden Gewitter, den Rollern vom Lande entgegenwehen, ihre vordere Seite treffen, sie zu höherem Aufbäumen zwingen und ihre zerfetzten Kämme hinwegführen; jeder heranstürmende Wasserfall ist dann mit einer spühenden flatternden Mähne geschmückt. Von unvergleichlicher geheimnißvoller Schönheit ist aber der Anblick der Calema des Nachts, wenn das Wasser phosphoreszirt, von blitzähnlichem Leuchten durchzuckt wird, oder wenn das Licht des Vollmonds eine zauberische, in höheren Breiten unbekannte Helligkeit über dieselbe ergießt, und nicht minder des Abends, wenn die Farbengluth eines prächtigen Sonnenuntergangs im wechselnden Spiel von dem bewegten Elemente wiederglänzt.

Das Getöse, welches diese Art Brandung hervorbringt, erinnert in einiger Entfernung sowohl an das Rollen des Donners wie an das

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