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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Die letzte Frage galt dem Anblick eines Kollegen, der mit kreideweißem Gesicht und in wahnsinniger Hast von oben herabgestürzt kam, gefolgt von einem eilig nachdrängenden Menschenhaufen.

„Gestohlen!“ keuchte der Mann, dem der Schrecken den Klang der Stimme geraubt hatte und dem die Angst um seine Zukunft in den Augen flimmerte. „Van Eycks ‚Madonna im Rosenhag‘ ist gestohlen! – Es darf niemand mehr hinaus – niemand, denn vor zehn Minuten war das Bild noch da!“

Mit einer blitzschnellen Bewegung hatte Hudetz seinem wie versteinert dastehenden Gegenüber den Geldbeutel aus der Hand gerissen. Als er sich durch die schmale Spalte der halbgeöffneten Pforte drängte, hörte er den hellen Klang einer weiblichen Stimme, die laut über die lärmende Menge hinwegrief:

„Haltet ihn doch! – Das ist ja der Dieb! –“

Dann vernahm er nichts mehr, als das Geräusch der Straße, das ihn wieder umgab. Ihm war, als sei er auf Flügeln die große Freitreppe hinuntergetragen worden, und nun ging er weiter und weiter, mit vorgebeugtem Kopfe und weit ausgreifenden Schritten, unbekümmert um die Richtung seines Weges, aber innerlich ganz ruhig. Er fühlte die harten Kanten des Bildes an seinem Körper, und diese Berührung durchströmte ihn jetzt mit wunderbarer Kraft.

Es war sein Eigenthum; – mit Löwenmuth hatte er sich’s erkämpft – und nur mit dem Leben würde er es seinen Verfolgern lassen!

Aber man verfolgte ihn nicht, und von den Vorübergehenden beachtete keiner die unscheinbare Gestalt in dem weiten, grauen, fadenscheinigen Mantel, den der Wind zu so abenteuerlichen Formen aufblähte.

Die Mücke hatte ihren Stachel gebraucht – und man hatte nach ihr geschlagen – aber der Schlag war fehlgegangen, und unbehelligt flog sie davon! – –

„Was haben Sie denn da unter dem Mantel?“ fragte Frau Haberland, welche auf ihrem gewohnten Platz am Küchentisch vor dem räthselhaften, dickleibigen Buche saß, das sie bei dem Eintritt des Mieters noch jedesmal zugeschlagen hatte. Die tiefliegenden Augen des alten Weibes waren eben schärfer für solche Geheimnisse als diejenigen der Männer, die man zu Hütern der unersetzlichen Kunstschätze bestellt hatte.

Aber ihr Scharfblick bedeutete dem ehemaligen Studenten keine Gefahr.

„Ein altes Bild, das ich für sechs Groschen beim Trödler erstanden habe,“ log er „Ich kann es recht gut für meine Arbeit brauchen.“

Er hatte die kleine Tafel unter dem Mantelkragen hervorgezogen und hielt sie ihr entgegen. Wie er die Alte kannte, wußte er, daß jedes Heimlichthun nur ihr Mißtrauen geweckt haben würde. Sie betrachtete das Bild geraume Zeit, dann schüttelte sie den grauen Kopf.

„Der Rahmen mag das Geld ja allenfalls werth sein,“ meinte sie, „für die Schmiererei hätte ich keine fünf Pfennig gegeben.“

Hudetz hütete sich wohl, ihr zu widersprechen. Jetzt mochte sie immerhin in der Zeitung von dem Diebstahl lesen, niemals würde sie doch auf die Vermuthung kommen, daß sie selber den köstlichen Schatz in ihrer armseligen Behausung verberge.

Er ging in sein Zimmer und zündete ein Licht an, denn bis zum Einbruch völliger Dunkelheit war er in den Straßen umhergeirrt. Er rückte sein Kleinod in die beste Beleuchtung, soweit eben die jämmerliche Kerze eine solche zu gewähren vermochte; aber als er sich nun herabbeugte, um es mit dem seligen Behagen des Besitzers zu bekrachten, erfaßte ihn ein heftiger Schwindel, ein Schleier legte sich vor seine Augen, er griff mit den Händen in die Luft und stürzte lautlos zu Boden.

Die wunderthätigen Geister des Branntweins hatten ihn ermuthigt und beschützt bis hierher – nun aber war ihre Wirkung zu Ende, der Rückschlag trat ein.




„Nein, es ist unmöglich, Marie, ich kann nicht mehr,“ sagte Cilly von Brenckendorf zu ihrer Base, indem sie mit einer drolligen Gebärbe beide Hände auf das Herz drückte. „Jetzt weiß ich, wie dem Siegesboten von Marathon zu Muthe gewesen ist, als er in Athen ankam, – oder war es in Sparta? Jedenfalls würde ich todt hinfallen wie er, wenn ich diesen Dauerlauf nur noch fünf Minuten lang fortsetzen sollte.“

Sie hatten ein Putzgeschäft in der Jägerstraße besucht, und angesichts des herrlichen Winterwetters hatte Marie darauf bestanden, daß man den Heimweg zu Fuß mache. Nun aber sah sie wohl ein, daß es unmöglich sein würde, ihr verwöhntes Bäschen dazu zu zwingen.

„Ja, wir Mädchen aus dem Volke sind besser auf den Füßen als Ihr Prinzessinnen,“ erwiderte sie lächelnd, „und Deinen Tod will ich natürlich nicht auf dem Gewissen haben. – Komm’! – Wir sind ja in einer glücklicheren Läge als der bedauernswerthe Siegesbote von Marathon, denn ihm ist schwerlich eine leere Droschke über den Weg gefahren.“

„Wie? Diesem schrecklichen Henkerskarren zweiter Klasse sollen wir uns anvertrauen?“ rief Cilly entsetzt. „Siehst Du denn nicht, Marie, daß dem Pferde die Selbstmordgedanken förmlich auf dem Gesicht geschrieben stehen?“

Aber ihr Widerspruch war diesmal umsonst, denn schon hatte Marie das Gefährt herangewinkt und den Wagenschlag geöffnet.

„Nun, in Gottes Namen!“ seufzte die Tochter des Generals. „Man muß auch das einmal durchgemacht haben!“

Das Pferdchen, das mit seinen steifen Knieen und seinem niederhängenden Kopfe allerdings einigermaßen lebensüberdrüssig aussah, stolperte langsam vorwärts, unter den freigebigen Peitschenhieben seines Tyrannen gelegentlich die Ohren schüttelnd wie in schmerzlicher Verwunderung über die Unbilligkeit der Menschen, die keinen Unterschied zu machen wissen zwischen einem jungen Berberhengste und einem Veteranen, der alle Gebrechen des Alters in seinen Gliedern fühlt. In einer Gangart, welche die Geduld heißblütiger Fahrgäste allerdings hätte ziemlich hart auf die Probe stellen können, trottete es die Straße Unter den Linden hinab, beharrlich die Mitte des Fahrweges behauptend, wie rechtschaffen auch der Kutscher bemüht war, es nach der vorgeschriebenen rechten Seite hinüber zu steuern.

„Ich bin in einer Sturmnacht über den Kanal gefahren,“ klagte Cilly nach kurzer Zeit, „aber ich gebe Dir die heilige Versicherung, Marie, gegen diese Fahrt war es ein Ruhen in Abrahams Schoße.“

Eine laut scheltende Stimme, die in großer Nähe hinter ihnen vernehmlich wurde, und die vom Bock ihres eigenen Fahrzeuges herab nicht eben höflich Antwort erhielt, veranlaßte sie, das Köpfchen neugierig gegen das eine, herabgelassene Fenster zu neigen. Der reich betreßte Lenker eines sehr vornehmen, zweispännigen geschlossenen Wagens versuchte offenbar vergeblich, an der vorschriftswidrig fahrenden Droschke vorbeizukommen; er hatte Mühe, seine feurigen Graditzer Hengste zu zügeln, und es war begreiflich, daß er seinem Unwillen in ziemlich kräftigen Zurufen Luft zu machen suchte. Der vierbeinige Veteran jedoch kümmerte sich darum nicht im mindesten, und des Austausches von Höflichkeiten zwischen den beiden Kutschern wäre voraussichtlich kein Ende gewesen, wenn sich nicht plötzlich ein jugendlicher Männerkopf mit wasserblauen Augen und mit der weißen Mütze eines Kürassieroffiziers aus dem einen Wagenfenster gebeugt hätte, um mit schneidiger Kommandostimme zu rufen:

„Zum Henker, so fahr’ sie in Grund und Boden! Man wird mit dem Pack in einem solchen Karren doch keine Umstände machen!“

Und der betreßte Rosselenker mußte wohl an unbedingten Gehorsam gewöhnt sein, denn er ließ den beiden Graditzern die Zügel, und im nächsten Augenblick erfolgte ein markdurchdringendes Knirschen, Krachen und Klirren, wie wenn Eisen, Holz und Glas zerbricht – ein gellender Aufschrei aus weiblichem Munde – ein wirres Fluchen, Rufen und Schelten, – der vornehme Wagen sauste anscheinend unbeschädigt und unangefochten über den glatten Asphalt weiter, – die gebrechliche Droschke und das lebensmüde Pferdchen aber lagen auf dem Fahrdamm, als wenn sie sich nie mehr von diesem Sturze erheben sollten.

Ein dichter Menschenknäuel ballte sich alsbald an der Stätte des Unfalls zusammen. Auch die Helmspitze eines Schutzmannes blinkte dazwischen auf, und der Wächter der öffentlichen Ordnung schien sehr geneigt, mit dem Droschkenkutscher, der nach seiner Anschauung selbstverständlich der einzig Schuldige war, strenge ins Gericht zu gehen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_327.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)