Seite:Die Gartenlaube (1890) 328.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Aber während er pflichteifrig mit Notizbuch und Bleistift herumfuchtelte, thaten einige der umstehenden Herren dasjenige, was dem wackeren Beamten offenbar minder wichtig schien, – das heißt, sie nahmen sich der bedauernswerthen Fahrgäste des verunglückten Fuhrwerks an. Es kostete einige Mühe, sie aus dem umgestürzten Wagen, in welchem sie wie in einem Käfig gefangen gehalten wurden, zu befreien, – um so mehr, als Cilly das Bewußtsein völlig verloren hatte und das Bemühen der Helfer somit nicht im mindesten zu unterstützen vermochte. Aber die im Grunde so liebenswürdige und hilfsbereite Natur der übel berufenen Berliner Bevölkerung weiß sich mit solchen Schwierigkeiten rasch und humorvoll abzufinden. Nur wenige bange und peinliche Minuten, dann hoben ein paar starke Männer die Ohnmächtige auf ihre Arme und trugen sie nach dem Bürgersteig hinüber.

In dem nämlichen Augenblick auch öffnete sich die verschlossene Thür des stattlichen Hauses, vor welchem der Unfall sich ereignet hatte, und barhaupt trat ein hochgewachsener, blondbärtiger Herr – von einem Diener in einfachem Dienstanzug gefolgt – auf die Straße hinaus.

„Wolfgang! Gott sei Dank. Nun sind wir geborgen!“

Mit einem Ausdruck fast jubelnder Freude hatte Marie das Erscheinen ihres Bruders begrüßt. Unter der ersten Wirkung des furchtbaren Schreckens hatte sie ja noch nicht einmal bemerkt, daß sie sich unmittelbar vor seiner Wohnung befanden.

Er war rasch auf sie zugetreten, hatte – unbekümmert um die gaffenden Zuschauer – seinen Arm um ihren Nacken gelegt und sein Antlitz voll liebevoller Besorgniß zu ihr herabgeneigt.

„Welch ein unglücklicher Zufall, mein armes Schwesterchen! Du bist doch unverletzt?“

„Ich denke, ja! Aber Cilly – Du mußt ihr helfen, Wolfgang! Sie ist ohnmächtig – gewiß nur ohnmächtig, denn es ist ja unmöglich, daß es etwas Schlimmeres sei!“

„Mit Ihrer Erlaubniß, meine Herrschaften – ich bin Arzt!“

Diese in der nöthigen Entschiedenheit gesprochenen Worte waren genügend, sofort die lebendige Mauer zu theilen, welche sich um die Bewußtlose gebildet hatte. Es hatte nicht den Anschein, als ob die junge Dame eine irgendwie erhebliche Verwundung davongetragen hätte, denn nicht einmal ihr niedlicher Straßenanzug war in Unordnung gerathen. Das sonst so heitere und lebensprühende Gesichtchen aber war marmorweiß, und es erschien so lieblich in dieser durchsichtigen Blässe, daß die lauten Ausrufe jammernder Theilnahme, in welchen sich einige mitfühlende weibliche Wesen aus dem Zuschauerkreise ergingen, nicht einmal den sonst allezeit bereiten Spott der minder zart besaiteten Seelen herausforderten.

Wolfgang hatte sein Ohr den halb geöffneten Lippen seiner jungen Verwandten ganz nahe gebracht; dann umschlang er plötzlich zur grenzenlosen Verwunderung der Umstehenden mit beiden Armen ihren schlanken Leib und hob sie leicht wie ein Kind empor.

„Platz da, wenn ich bitten darf! – Rintelmann, schließen Sie hinter mir die Thür!“

Und zum lebhaften Verdruß der zartfühlenden weiblichen Wesen, die sich plötzlich um die Fortsetzung und den Schluß des aufregenden Ereignisses betrogen sahen, verschwand der junge Arzt mit den beiden Opfern der Katastrophe im Innern des Hauses, dessen schwere Eichenpforte der Diener ebenso geräuschvoll als rücksichtslos hinter sich und ihnen zuwarf.

„Da geht sie hin und singt nicht mehr!“ meinte ein halbwüchsiger Bursche, und ein anderer fügte, zu den verblüfften Damen gewendet, hinzu:

„Sie können ganz ruhig sein – der wird sie schon kuriren – wenn er auch man bloß ein Zahnarzt ist!“

Er hatte auf das kleine, wenig in die Augen fallende Marmorschild gewiesen, in welches nichts als die Worte. „Brenckendorf, Zahnarzt“ eingegraben waren, und eine allgemeine Heiterkeit belohnte seine Entdeckung. Dann aber wandte sich die allgemeine Theilnahme in Ermangelung eines würdigeren Gegenstandes dem alten, lebensmüden Pferdchen zu, das noch immer auf dem Asphalt lag, allen kräftigen Versuchen, die seine Auferstehung herbeiführen sollten, einen nur leidenden, aber nichts destoweniger unüberwindlichen Widerstand entgegensetzend.

Auf ein Ruhebett in seinem Operationszimmer hatte Wolfgang seine reizende Bürde niedergelegt.

„Ich glaube nicht, daß diese Bewußtlosigkeit mehr ist als eine vorübergehende Folge des ausgestandenen Schreckens,“ sagte er zu seiner Schwester, „aber ich werde nichtsdestoweniger unverzüglich einen wirklichen Arzt herbeizuschaffen suchen. Du hast wohl die Güte, ihr während meiner Abwesenheit etwas Luft zu verschaffen und ihr mit dieser Flüssigkeit da“ – er hatte dieselbe bereits aus der Krystallflasche in eine silberne Schale gegossen – „die Schläfen zu waschen.“

Die Gelassenheit, mit welcher er ihr diese einfache Anweisung ertheilte, war am ehesten geeignet, auch Mariens Besorgnisse erheblich herabzumindern, und als sie sich nach Wolfgangs Entfernung kaum angeschickt hatte, den kleinen Samariterdienst zu verrichten, schlug Cilly auch wirklich schon ihre dunklen Augen auf.

„Was ist das, Marie?“ fragte sie, sich ungestüm in die Höhe richtend. „Wohin sind wir gerathen?“

Die Gefragte legte ihren Arm um die zierliche, bebende Gestalt und küßte sie auf die Wangen.

„Sage mir vor allem, ob Dir kein Leid geschehen ist, meine liebe, einzige Cilly! Befindest Du Dich denn nun wirklich wieder ganz wohl?“

Die Tochter des Generals ließ jetzt auch die Füßchen von dem persischen Teppich herabgleiten, der über das Ruhebett gebreitet war, und reckte sich zu ihrer ganzen, allerdings nicht sehr beträchtlichen Höhe empor.

„Gebrochen ist nichts, wie es scheint,“ meinte sie in einer bereits wiederkehrenden Anwandlung ihrer unverwüstlichen Spottlust, und mit einem kleinen Zucken der Lippen, das Marie nur für ein sehr begreifliches Zeichen nachklingender nervöser Erregung hielt, fügte sie nach kurzem Schweigen hinzu: „Ich glaube wahrhaftig, nicht einmal das Herz!“

„Ich habe mir bittere Vorwürfe gemacht während dieser schrecklichen Minuten, Cilly! Ich allein trage ja an allem die Schuld, denn es scheint in der That, als hättest Du das Pferd und seine Gedanken auf den ersten Blick nur allzu richtig beurtheilt.“

Heftig schüttelte Cilly das kurzlockige Köpfchen.

„Nicht Du trägst die Schuld und nicht das Pferd, sondern die Rohheit eines abscheulichen Menschen, der – den – doch gleichviel, es ist ja nun vorüber!“

Sie preßte die weißen Zähne aufeinander, als wollte sie dadurch ein unüberlegtes Wort gefangen halten, das sich ihr hatte über die Lippen drängen wollen. Noch einmal durchschweifte ihr forschender Blick das mit ausgesuchter Vornehmheit ausgestattete Gemach, dann fuhr sie, um weitere Fragen Mariens abzuschneiden, hastig fort:

„Aber wo sind wir? Was ist mit mir vorgegangen, daß ich gar nicht weiß, wie ich an diesen Ort gelangt bin? Ist es denn möglich, daß ich, Cilly Brenckendorf, die starknervigste meiner ganzen Bekanntschaft, in eine echte und wahrhaftige Ohnmacht fallen konnte?“

„Es muß wohl so sein, wenn Du gar nichts davon gemerkt hast, daß man Dich hier herauf getragen hat.“

„Wer hat mich herauf getragen? Du bist doch hoffentlich immer bei mir gewesen?“

Eine lebhafte Gluth erschien auf ihren eben noch sehr blassen Wangen, und lächelnd zog Marie die Freundin an sich, um sie zu beruhigen.

„Gewiß, mein Herz! Und bei allem Unglück hat doch noch ein glücklicher Zufall über uns gewaltet. Ich vermuthe fast, daß mein Bruder ein Augenzeuge des ganzen Vorganges gewesen ist; denn er hätte sonst kaum so schnell zur Stelle sein können, um uns beizustehen und Dich aus diesem entsetzlichen Menschengewühl hierher in seine Wohnung zu bringen.“

Cilly machte sich rasch aus den Armen ihrer Base los, und die verrätherische Gluth in ihrem Antlitz flammte noch höher auf.

„Dein Bruder also? Der Vetter Wolfgang? Und er wäre es gewesen, der – der mich –“

„Der Dich auf seine starken Arme hob wie ein Nordlandsrecke, der eine Königstochter entführen will!“ deklamirte Marie scherzend; aber ihr sonst so übermüthiges Bäschen, das jederzeit bereit war, auf eine harmlose Neckerei einzugehen, nahm diese Auskunft ersichtlich sehr übel auf. Ihre feinen Nasenflügel bebten und in ihren Augen schimmerten helle Thränen, als sie heftig erwiderte:

„Es ist wenig zartfühlend, sich über etwas derartiges obendrein lustig zu machen! Ich finde es abscheulich – dies und alles – ich – o, ich hasse die ganze Welt!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_328.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)