Seite:Die Gartenlaube (1890) 364.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

hatten sich da, drei oder vier Schritte von ihr entfernt zu einer kleinen Gruppe vereinigt, und sie führten ihre Unterhaltung so laut, daß Marie gezwungen war, von dem Gegenstand derselben Kenntniß zu nehmen, wenn sie nicht ihren Platz verlassen wollte.

„Wenn er ein Schwindler ist, so ist er doch wenigstens als solcher ein Genie,“ sagte der Herr in Civil. Sein Aufenthalt in Berlin zählt erst nach Wochen, und er hat heute schon eine Kundschaft, die ihn in wenig Jahren zu einem steinreichen Manne gemacht haben wird. Vor drei Tagen traf ich in seinem Wartezimmer die beiden Gräfinnen Kosadini und den Fürsten Hardegg, gestern vormittag aber sah ich im Vorübergehen sogar einen königlichen Wagen vor seinem Hause halten. Kann man diesem Zahnarzt, der nicht einmal einen Doktortitel hat, danach nicht mit Sicherheit prophezeien, daß er als Millionär und Geheimer Hofrath endigen wird?“

Marie wußte, daß von ihrem Bruder die Rede sei, und sie hatte die peinliche Empfindung, als ob sie sich zu der unwürdigen Rolle einer Horcherin hergebe; trotzdem aber zwang sie eine unsichtbare Gewalt, auf ihrem Sessel zu verharren.

„Der Mann hat eben Gluck gehabt,“ meinte einer der Offiziere als Erwiderung auf die Worte des ersten Sprechers. „Er hatte von drüben her eine Empfehlung an den amerikanischen Gesandten, und der Zufall wollte, daß er die Tochter desselben innerhalb acht Tagen von einem quälenden Mundübel befreite, an welchem die größten Chirurgen seit einem halben Jahre erfolglos herumkurirt hatten. Ist es da ein Wunder, wenn der Amerikaner und seine Gemahlin überall, wo sie hinkommen, mit dem Brustton der Ueberzeugung das Lob des neuerstandenen Tausendkünstlers singen?“

„Aber für einen Schwindler halte ich ihn trotz alledem,“ mischte sich ein anderer schnarrend ein. „Meine Mama, die seit zwanzig Jahren mit ihrem Hofrath Bauer vollkommen zufrieden gewesen war, hatte natürlich neuerdings auch keine Ruhe mehr, bis sie dem großen Manne ihre kleinen Leiden vorgetragen hatte. Ich mußte sie hegleiten, denn Herr Brenckendorf behandelt ja als echter Grandseigneur nur in seinem eigenen Hause. – Na, und ich sage Ihnen, meine Herrschaften – ich war einfach baff, als ich mir die Bude dieses Zahnarztes ansah. Echte Gobelins, orientalische Teppiche, Pariser Bronzen, Originalgemälde von Achenbach und Knaus – enfin, fürstlich! – Und dabei taxire ich den ganzen Mann auf etwa dreißig Jahre! – Wenn er schon als Anfänger solche Aufwendungen machen kann, so mag er ja meinetwegen ein Genie von einem Schwindler sein, aber ein Schwindler ist er doch unbedingt.“

Marie von Brenckendorf erbebte vor Scham und Zorn. Sie war nahe daran, aufzuspringen und selbst auf die Gefahr hin, sich eines groben Verstoßes gegen die Schicklichkeit schuldig zu machen, die Ehre ihres so schimpflich verdächtigten Bruders zu vertheidigen. Da sah sie, daß Engelbert in seiner stolzen männlichen Schönheit und seiner unverwüstlichen, strahlenden Heiterkeit an die kleine Gruppe herantrat, und in ihrem Antlitz leuchtete es auf, denn nun war sie ja sicher, daß Wolfgang auf der Stelle die Genugthuung erhalten würde, auf welche er wenigstens im Hause seiner Verwandten nach solchem Angriffe einen gerechten Anspruch hatte.

Sie fürchtete nur, daß man bei Engelberts Annäherung das Thema abbrechen könnte; aber ihre Besorgniß erwies sich rasch als unbegründet.

„Wissen Sie auch, Herr Kamerad,“ wandte sich der letzte Redner lachend an den Dragoner, „daß ich Sie vor ein paar Tagen in unserem Regimentskasino allen Ernstes gegen einen ganz tollen Verdacht in Schutz nehmen mußte?“

„Da bin ich in der That neugierig,“ meinte Engelbert sorglos, „ich habe zwar manche Sünde auf dem Gewissen und ermangle durchaus des Ruhmes, den ich haben sollte; aber daß man mich unter Kameraden in Schutz nehmen müßte, hätte ich allerdings nicht für möglich gehalten.“

„Na, der dicke Trenck behauptete nicht mehr und nicht weniger, als daß Ihr Namensvetter, der Charlatan von einem Zahnarzt, der neuerdings die ganze Welt von sich reden macht, eben nicht bloß ein Namensvetter, sondern ein ganz naher Verwandter Ihres Hauses sei, der sich nur gegen entsprechende klingende Belohnung dazu verstanden habe, den Adel abzulegen.“

Erschreckt und in ängstlicher Spannung blickte Marie, die glühenden Wangen hinter dem Fächer verbergend, auf ihren Vetter. Engelbert drehte etwas nervös an seinem Schnurrbart; aber auf seinem lächelnden Gesicht lag nicht der leiseste Schatten einer Verlegenheit.

„Aeh – sehr gut – wirklich sehr gut!“ erwiderte er mit überzeugender Unbefangenheit. „Bin Ihnen aufrichtig verbunden, Herr Kamerad! – Habe auch schon von dem Menschen reden hören! – Also ein Charlatan ist er? – Und das ist ganz gewiß?“

Als hätte man ihr hinterrücks einen Peitschenhieb versetzt, sprang Marie auf. Sie wollte und durfte nichts weiter hören. Aber als sie sich hastig zum Gehen wandte, fiel ihr Blick auf Lothar, der in demselben Augenblick aus einer Fensternische hervorgetreten war. Seine Brauen hatten sich finster zusammengezogen und eine tiefe Falte lag zwischen ihnen. Es war kein Zweifel, daß er geradenwegs auf die kleine plaudernde Gruppe zuschreiten wollte. Mehr einer Eingebung der Herzensangst als einem klarbewußten Gedanken folgend, trat ihm Marie hindernd entgegen.

„Lothar!“ sagte sie leise und bittend, „was willst Du thun?“

Er hatte ihre Nähe offenbar nicht geahnt, und es war ihm anzusehen, wie er bei ihrem unerwarteten Anblick erschrak.

„Du bist hier, Marie? – Und Du hast gehört –?“

„Daß man meinen Bruder verleumdete und verleugnete, ja! Ich mußte es wohl schweigend anhören, denn ich bin ein Mädchen! Aber Du, Lothar, was willst Du thun?“

„Was meine Pflicht ist! Ich werde die Verleumder Lügen strafen.“

„Auch Deinen eigenen Bruder, Lothar?“

„Auch ihn!“ erwiderte er ohne Zögern und es war ein Ausdruck von Strenge auf seinem Gesicht, welcher ihr Furcht einflößte. „Soll ich mich zum Helfershelfer einer Erbärmlichkeit machen, nur weil es mein Bruder ist von dem sie ausgeht?“

Marie warf einen raschen, scheuen Blick nach der kleinen Gruppe hinüber. Nein, wenn man so rosig und heiter aussehen, so liebenswürdig lächeln konnte, wie es Engelbert in diesem Augenblick that, dann konnte man unmöglich mit Absicht und Bewußtsein eine Erbärmlichkeit begangen haben. Trotz ihrer heftigen Erregung eine gelassene Miene erzwingend, legte Marie ihre Hand auf den Arm Lothars.

„Komm’!“ sagte sie. „Führe mich in den Speisesaal! – Es ist hier so unertraglich heiß!“

Er rührte sich nicht von der Stelle, und er sah sie mit einem Ausdruck an, vor dem sie wider ihren Willen die Augen niederschlagen mußte.

„Du hast also den Wunsch, daß das, was soeben dort gesprochen wurde, ohne Berichtigung bleibe?“ fragte er mit tiefem Ernst.

„Ich will jedenfalls nicht, daß es zum Anlaß eines ernsten Zwistes zwischen Dir und Deinem Bruder werde. Eine öffentliche Beschämung wie diese könnte Engelbert Dir niemals vergeben.“

Um die Mundwinkel Lothars zuckte rasch verschwindend ein bitteres Lächeln.

„In Deiner Sorge um die Anwesenden vergissest Du, was wir dem Abwesenden schuldig sind. Oder möchtest Du Deinem Bruder wirklich eine unverdiente Beschimpfung widerfahren lassen, nur um Deinem Vetter eine wohlverdiente Beschämung zu ersparen?“

Trotzig hob Marie das Köpfchen. Das war wieder der hofmeisternde Ton, den sie nicht ertragen konnte – nicht ertragen wollte, wenn auch vielleicht nur deshalb, weil er sie jedesmal so nachdrücklich empfinden ließ, daß sie im Unrecht sei.

„Und wenn es so wäre – welche Pflicht geböte Dir, weniger nachsichtig zu sein als ich? Ich weiß, daß Wolfgang höchstens ein mitleidiges Lächeln für das Gerede dieser männlichen Klatschbasen haben würde, und daß ihm nichts weniger erwünscht sein kann als ein öffentliches Aergerniß um seinetwillen.“

„Es ist möglich, daß er nach solchen Erwägungen handeln würde, wenn er hier wäre; aber er ist nicht hier, und als sein Freund habe ich kein Recht, anderen Geboten zu folgen als denen der Kameradschaft und der Ehre.“

„Auch auf die Gefahr hin, Dich selber einem recht häßlichen Verdacht auszusetzen?“

„Einem häßlichen Verdacht – ich?“ fragte er in offenem Erstaunen.

„Ja, denn es giebt sicherlich viele, die der Meinung sind, daß ein Bruder den anderen niemals ohne zwingendste Noth und auch dann nicht anders als unter vier Augen demüthigen soll – es giebt sicherlich auch viele, die nach einem solchen Auftritt überzeugt sein würden, Du habest längst einen verborgenen Groll

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 364. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_364.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)