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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

entgegenlacht, sein blühend Weib, die fröhliche Saskia, auf dem Knie, bei schäumendem Pokal unschuldiger Festlust hingegeben, das läßt sich in der That deuten als ein freudetrotzig „Gaudeamus“, welches herausfordernd in unsere nachdenkliche, schier überernste Zeit von seinen Lippen herüberklingt. Sein „guter Samariter“ kann den Zug unserer Zeit zur Bethätigung von Milde und Barmherzigkeit im Dienst des öffentlichen Wohles bestärken. So manchen seiner Darstellungen aus der Sphäre gedrückten Menschenthums und düsterer Lebensenge, die aus der inneren Helle seines theilnehmenden Gemüths ein verklärend Licht erhielten, das sich mit dem gegebenen Düster künstlerisch zu jenem Helldunkel verschmolz, das für seine Art zu schauen und zu schaffen so bezeichnend ist, auch ihnen ist ein lebendiger Bezug zur Gegenwart zu entnehmen: die Mahnung, daß es kein Dunkel des Lebens giebt, wo das Licht der Sonne nicht hindringt, und daß der Schatten es ist, der die Wohlthat des Lichts erst recht fühlbar macht. Aber alle diese Beziehungen ergeben doch kaum hinreichenden Stoff für 300 dichtbedruckte Seiten Text über Rembrandts Beruf zum Erzieher, nicht genügenden Anlaß, daß gerade in unseren Tagen „ein Deutscher“ offenbar für alle seine Mitdeutschen den ernst-heiteren Meister von Amsterdam aufruft als Erzieher, und keine Erklärung für die Wirkung solcher Beschwörung.

Und doch kündigt dieser vieldeutige Titel eine Schrift an, die nichts mehr und nichts weniger will, als die Grundsätze aufstellen für ein großes reformatorisches Selbsterziehungswerk der gesammten deutschen Nation. Die Zeit nach einem Thronwechsel gleicht nicht darum nur dem Frühlingstreiben in der Natur, daß in ihr die Hoffnung regiert auf Erfüllung so mancher Wünsche, die sich in der Zeit vorher nicht hervorwagten, auch ein Sprießen und Sprossen von frischer Triebkraft ist für sie charakteristisch. Unkraut und fruchtverheißender Keim schießt gleich fröhlich empor, und auch der zukunftslose Schößling träumt von einer Blüthenkrone, die einst goldene Früchte tragen soll: so bringt jeder Tag in solcher Zeit neue Reformvorschläge, neue „Blüthenträume“. Ach, das wenigste davon sieht seinen Herbst und besteht in den Tagen der Ernte!

Zu den Schriften, die das Bewußtsein erzeugt hat, daß wir in eine Aera von Reformen getreten sind, die den inneren Ausbau unseres Deutschen Reichs im Schutze gesicherten Friedens bezwecken, zählt auch unser Buch. Aber während die Reformschriften, die seit dem Ableben des ersten Hohenzollernkaisers Kunde gaben von Hoffnungen und Wünschen im Volke, fast alle politischer oder vokswirthschaftlicher Natur waren und irgendwie im Zusammenhang standen mit den Fragen der Sozialpolitik, stellt diese eine das dem sozialistischen entgegengesetzte Prinzip, das der individuellen Freiheit, in den Vordergrund der Betrachtung und erwartet von seiner Pflege das Heil der Zukunft des Vaterlandes.

Der Unterschied ist wohl jedermann klar. Während der Sozialismus nach dem Prinzip der Gleichheit durch gemeingültige Einrichtungen, Gesetze und Vorschriften, die den Einzelwillen auch in den persönlichen Angelegenheiten dem Willen der Gesammtheit unterwerfen, das Glück der Menschheit herbeiführen will, beruht der Individualismus auf der Ueberzeugung, daß alle höhere Offenbarung menschlichen Könnens und Wollens, alles echte Glück auf der Freiheit der Persönlichkeit beruht: im Denken, Fühlen und Handeln sich selbst zum Ausdruck zu bringen, gemäß dem Goetheschen Spruche:

„Volk und Knecht und Ueberwinder,
Sie gesteh’n zu jeder Zeit,
Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist nur die Persönlichkeit!“

Diese Ueberzeugung zum Lebensgrundsatz erhoben, im Lehren und Lernen, in Kunst und Wissenschaft, in Staat und Gesellschaft, dies heißt Individualismus. Für eine Wiedergeburt von deutscher Art und Kunst im Geiste des Individualismus einzutreten zu Nutz und Vortheil des inneren Glücks und der geistigen Macht der Deutschen, dies ist der Zweck dieses Buchs. Die stärkste Hilfe dabei erwartet es von der Kunst. Und zu diesem Werke der Selbsterziehung und Selbstbefreiung ruft der ungenannte Verfasser den Meister Rembrandt Harmensz van Ryn aus der Schattenwelt des 17. Jahrhunderts in der Gegenwart Bann als segenspendenden Schutzpatron. Warum einen Holländer? Und einen Maler? Warum nicht Goethe? Oder Lessing? Oder Uhland? Jeder dieser drei großen deutschen Männer hat auf seine Art in Kunst und Leben sich als Vertreter und Verfechter jenes Individualismus bewährt, über dessen Verfall der Verfasser klagt und von dem die Geschichte uns lehrt, daß alle Blüthe unseres Kunst- und Geisteslebens in ihm seine Wurzel hatte. Alle drei stehen unseren Geisteskämpfen, unserem Denken und Empfinden doch wahrlich näher als der bereits bei Lebzeiten vereinsamte große Maler Alt-Hollands! Die Ueberzeugung des Verfassers, daß vornehmlich die niederdeutschen Volkselemente Beruf und Kraft haben, aus sich heraus in unseren Tagen die allgemeine Wiedergeburt des deutschen Volksthums zu einem zukunftskräftigen Individualismus zu bewirken, giebt die Antwort auf diese Frage. Das Niederdeutschthum sei die noch ungebrochene Reserve deutscher Ursprünglichkeit. Diese Ueberzeugung verleiht dem Buche seine höchst eigenthümliche, oft zum Widerspruch reizende, immer wieder aber auch fesselnde Physiognomie. In ihr wurzeln auch die mancherlei Irrthümer, Meinungen und Schrullen, welche die schöne Wahrheit umwuchern.

Während andere Verfechter des Individualismus in Deutschland die Ursachen seines Niedergangs einestheils vor allem in der ungeheuren Anspannung aller Kräfte beim großen Werke der Begründung des Reichs und seines Ausbaus zur wehrhaften Vormacht des Weltfriedens, anderentheils in der Inanspruchnahme der Volksseele durch die wirthschaftlichen Reformarbeiten und Kämpfe erblickt haben, findet unser „Rembrandtianer“ die Hauptursache in den Zuständen moderner Bildung und ihren „nivellirenden und atomisirenden“, das heißt gleichmacherischen und auflösenden Strebungen.

„Es ist nachgerade zum öffentlichen Geheimniß geworden,“ so beginnt seine Anklage, „daß das geistige Leben des deutschen Volkes sich gegenwärtig in einem Zustande des langsamen, einige meinen auch, des rapiden Verfalls befindet. Die Wissenschaft zerstiebt allseitig in Specialismus (Erforschung von Einzelheiten); auf dem Gebiete des Denkens wie der schönen Litteratur fehlt es an epochemachenden Individualitäten; die bildende Kunst, obwohl durch bedeutende Meister vertreten, entbehrt doch der Monumentalität und damit ihrer besten Wirkung; Musiker sind selten, Musikanten zahllos.“ Architektur und Kunstgewerbe befinden sich auf einer beständigen Hetzjagd, ohne dabei zu einem eigenen neuen deutschen Stil zu gelangen. Der gesammten Bildung der Gegenwart macht der „Deutsche“ den Vorwurf, daß sie eine „historische, alexandrinische, rückwärts gewandte“ sei. Nicht neue Werthe zu schaffen, sei ihre Sorge, sondern alte Werthe zu registriren. Diese einseitige wissenschaftliche Bildung, deren höchster Stolz die naturwissenschaftliche Objekivität, die mikroskopisch erforschte Einzelerscheinung sei, lasse bereits viele unbefriedigt. Sie blicken aus nach neuen Bildungsidealen. Es sei im deutschen Geistesleben ein Drängen unverkennbar, das an der Stelle der wissenschaftlichen, zergliedernden eine künstlerische zusammenfassende Weltanschauung zu gewinnen suche.

„Gegenüber dem Niedergang der herrschenden wissenschaftlichen Bildung einerseits und dem Aufgang einer kommenden künstlerischen Bildung andererseits liegt es nahe, nach den Mitteln zu fragen, um beide Vorgänge möglichst zu fördern, zu regeln, klar abzuwickeln. Das deutsche Volk ist in seiner jetzigen Bildung überreif; aber im Grunde ist diese Ueberreife nur Unreife . . . Ueberkultur ist thatsächlich noch roher als Unkultur. Hier haben also etwaige neue erzieherische Faktoren einzusetzen; und zwar werden sie gerade entgegengesetzt wirken müssen wie die bisherige oder gewöhnliche Erziehung: das Volk muß nicht von der Natur weg, sondern zu ihr zurückgezogen werden. Durch wen? Durch sich selbst. Und wie? Indem es auf seine eigenen Urkräfte zurückgreift.“

Als Grundlage dieser Urkräfte des Deutschthums wird nun, der geschichtlichen Wahrheit gemäß, der Individualismus gepriesen. Er sei die tiefste Seite des deutschen Wesens. Er verlange ein Wirken und Schaffen gemäß der eigenen Natur des Einzelnen, von innen heraus. Er sei der geschworene Feind der Schablone, der mechanischen Bildung, der Resignation. Er setze das Gemüth und die Seele in ihre Rechte wieder ein und lehre den nüchternen

Verstand, sich bescheiden. „Der Instinkt treibt die gegenwärtigen Deutschen ganz richtig, wenn sie anfangen, mehr auf künstlerische als auf wissenschaflliche Ziele auszuschauen; aber eben dieser Instinkt sollte sich jetzt zum vollen Bewußtsein erhöhen und zur

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 383. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_383.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)