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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

lebendigen That verwirklichen. Deutschland, das auf dem Gebiete der militärischen und sozialen Reform allen anderen europäischen wie außereuropälschen Staaten voranging, sollte dies nun auf dem Gebiete der künstlerischen wie geistigen Reform thun; und es kann es nur thun, wenn es sich theoretisch und praktisch zu dem bekennt, was der Inhalt seines Seins, der Inhalt der Kunst, der Inhalt der Welt ist: Individualismus.“ Dieser halte die rechte Mitte zwischen dem überspannten, im Allgemeinen sich verlierenden Idealismus früherer Tage und dem am Stoff klebenden, geistlosen Spezialismus der Gegenwart. Die Erziehung zum Individualismus habe aber die Willensfreiheit des Einzelnen der persönlichen Willkür zu entziehen und der Volksindividualität, dem Nationalcharakter und dem Nationalbedürfniß anzupassen.

In solchem Sinne habe der Einzelne die Vergangenheit der Nation auf sich wirken zu lassen. Aus der Geschichte müßten ihm so die Ideale für die eigene Gegenwart erwachsen. „Deutschland soll seine Ideale den Zeiten und seine Zeiten den Idealen anpassen.“ „Die heutigen Deutschen, deren Großväter eine ideale und deren Väter eine historische Bildung besaßen, haben aus den Bildungsergebnissen der beiden vorhergehenden Generationen die Summe zu ziehen, indem sie sich ‚historische Ideale‘ wählen.“ Die Geistesheroen eines Volkes seien seine berufensten Erzieher. „In politischen Zeiten wird man auf politische Helden, in künstlerischen Zeiten auf künstlerische Helden hinsehen müssen; immer aber wird es darauf ankommen, in diesen Männern nicht das Vorübergehende, ihre spezielle Leistung, sondern das Bleibende, ihre innere Gesinnung nachzuahmen.“ Als solch ein historisches Ideal, als solch ein künstlerischer Held wird uns Rembrandt empfohlen. Daher das Wort: Rembrandt als Erzieher.

Dieser niederdeutsche Künstler in seiner überquellenden, in sich abgeschlossenen Persönlichkeit, in seiner großartigen Unabhängigkeit und unwillkürlichen Volksthümlichkeit, könne mit seinem Vorbild als Gegengift dienen gegen das deutsche „Schulmeisterthum“. Nicht nachgeahmt solle er werden in seiner Kunstübung, sondern seine Kunstgesinnung solle auf die deutschen Künstler, auf die Gebildeten, das Volk Deutschlands als Beispiel wirken. Seine Kunst wie sein Charakter wüchsen von innen heraus, entwickelten sich nach den Gesetzen seiner Natur, darin sollten wir’s ihm gleich thun. „Kein Künstler hat weniger Tradition in sich wie er, und kein Volk seufzt so sehr unter der Last der Tradition wie die Deutschen; dadurch ist er im vorhinein ihr Befreier.“ Das Publicum solle neue Eigenschaften eines unentwegten Individualismus und einer unentwegten Selbsttreue an den Künstlern nicht nur dulden, es solle sie fordern; vor allem aber sollte der so ungemein knorrige Künstlerkopf Rembrandts ihm als eine Mahnung vor Augen stehen, den hohen Werth der künstlerischen Einzelseele unter allen Umständen zu beachten, zu schätzen, auszunutzen. Nicht das, was der Markt und die herrschenden Zeitströmungen von ihm verlangen, solle der Künstler schaffen, sondern das, wozu ihn sein innerstes Herz treibt; darauf beruhe sein künstlerisches Seelenheil. Daß Rembrandt dafür aber ein so hervorragendes Muster sei, erkläre sich vor allem daraus, daß seine ungebundene Individualität der erhöhte Ausdruck war des Volkscharakters, der ihn gebildet. „Starke Persönlichkeit erwächst nur aus starkem Stammesgeist und dieser nur aus starkem Volksgeist; die Betriebsamkeit, Freiheitsliebe, Gemüthstiefe, Schlichtheit des holländischen Charakters spiegelt sich in Rembrandts Werken mehr als irgendwo.“ Den provinzialen Charakter seiner Malerei stellt der Verfasser den Deutschen von heute als Muster auf. „Das edle Gefühl der Stammeseigenthümlichkeit ist den Deutschen über ihrer politischen Zersetzung vielfach abhanden gekommen; . . . damit ist ein Stück Volksthum verloren gegangen, das wieder erobert werden muß.“ Vor allem durch die Kunst. Der rechte Künstler könne nicht lokal genug sein. Den Schattirungen der Natur habe die Kunst zu folgen. Auch die Städte, Landstriche haben ihre Individualität. Eine rechte Kunst könne nur aus dem mannigfach nüancirten und doch in sich einheitlich verbundenen Volkscharakter entstehen. Jeder landschaftlichen Eigenart entspreche eine besondere Kunstübung. In den heimathlosen Millionenstädten dagegen würden Kunst und Künstler schnell verzehrt, aber selten erzeugt. „Das athemlose Jagen nach Gewinnst, welches an solchen Orten herrscht, ist höheren Interessen nicht förderlich; und eine Kunstpflege, die nur Modesache, ist nicht einmal zu wünschen; auch würde es sicher besser vermieden, daß einzelne sittliche Schattenseiten des millionenstädtischen Lebens auf künstlerischem Wege noch mehr in Umlauf kommen, als es ohnedies schon der Fall ist.“ In einem späteren Kapitel werden diese Gedanken mit direkter Beziehung auf das Berlin der Gegenwart näher ausgeführt. Der Geist kühler Nüchternheit, der hier einst in Nicolai gegen Goethe sich aufgelehnt habe, habe auch in der Reichshauptstadt von heute die Oberherrschaft. Den übermächtigen Einfluß Berlins auf das geistige und künstlerische Leben von Alldeutschland, den es durch seine politische Stellung erlangt hat, bezeichnet unser Buch daher als unheilvoll.

Es ist hier nicht der Ort, auf die Ausführung dieser nur kurz skizzirten Grundgedanken des Werkes näher einzugehen. Unsere Aufgabe war, die Ziele desselben klar und kurz zu kennzeichnen auch für solche, denen das Buch selbst zu gelehrt geschrieben ist. Dies ist es in hohem Grade. So sehr es gegen das Professorenthum zu Felde zieht, so wenig verleugnet es seinen Ursprung aus der Gelehrtenstube. Es eifert gegen die moderne Sucht, zu citiren; wenn ich aber die in ihm enthaltenen Citate auf 1000 schätze, so ist diese Schätzung gering. Es hat kein Genüge daran, den Geist des Autors klar zu entwickeln, die Form des Ausdrucks will auch „geistreich“ sein. Seine Ausführungen, daß die geistig Vornehmen im Volksthum ihren besten Rückhalt hätten, sind allzu ausschließlich für die „Vornehmen“ gedacht und geschrieben, als daß sie echt volksthümlich wirken könnten. Vor allem aber ist es der vielfach bemerkbare Kampf gegen berühmte Gelehrte von Geltung, der – an die Art Schopenhauers und Dührings erinnernd – den Rückschluß gestattet, daß der Verfasser selbst ein Mitbürger der deutschen Gelehrtenrepublik ist. Obgleich gegen den Pessimismus ankämpfend – er führt dabei das schöne Goethesche Wort an: „Es ist unbedingt ein Zeichen von Wahrheitsliebe, überall in der Welt das Gute zu sehen“ – entwirft er zu Gunsten seiner Zukunftsideen von dem Kunst- und Geistesleben der Gegenwart ein zu düster gefärbtes Bild. Namentlich unterschätzt er die Popularisirung des Wissens und der Kunst; sie ist doch erst die Voraussetzung, an die sich seine Hoffnungen knüpfen, auch die Masse des Volkes für seine Ideale zu gewinnen.

Um der großen Gesichtspunkte willen, die er aufstellt und verfolgt, sind diese vielen Abschweifungen von der Hauptsache und der Wahrheit zu bedauern. Im besonderen schwächt seine einseitige Hervorhebung der Vorzüge und Verdienste des niederdeutschen Volkscharakters – so lesens- und beachtenswerth viele dieser Aeußerungen auch sind – das großnationale Grundstreben ab, das seinen Reformplänen doch innewohnt. Diese Emsigkeit verleitet ihn sogar dazu, die Herkunft von Lessing für das niederdeutsche Friesland in Anspruch zu nehmen, ohne weiteren Anhalt, als daß die Endung „ing“ bei friesischen Familiennamen häufig sei. Ueberhaupt gestattet er sich in Bezug auf die Herkunft bedeutender Menschen die seltsamsten Sprünge. Einmal zieht er aus dem Wohnort eines Zugewanderten Schlüsse auf seinen Stammescharakter und bei anderen verfolgt er die Abkunft bis in weit zurückliegende Jahrhunderte. Obgleich er sich immer wieder genöthigt sieht, die Oberdeutschen Schiller und Goethe heranzuziehen, wenn er geschichtliche Zeugen braucht für seine begeisterten Ansichten über den Werth des individualistischen Prinzips in Kunst und Leben, so verlegt er doch die eigentliche Heimath des Individualismus nach dem deutschen Norden, nach „Niederland“.

Dies Parteinehmen ist ein großer Fehlgriff. Freuen wir uns, daß der Boden für seine Anregungen zur Belebung des hohen Kulturprinzips überall in Deutschland gut gepflegt und fruchtbar ist. Der Hauptmangel des Buchs aber ist, daß seine Forderungen nicht in Einklang gebracht sind mit den Gesetzen des technischen und politischen Fortschritts, die unserer Zeit ihren Charakter geben. Wer gegen Freizügigkeit in Sachen der Bildung eifert, wer den unnennbaren Gewinn nicht einsieht, den all die Errungenschaften moderner Verkehrsentwickelung dem Leben, der Kunst wie der Wissenschaft bringen, der steht der Gegenwart – trotz allen wohlbegründeten Reformdranges – in vielem als Romantiker gegenüber. Auch die Freizügigkeit, die Verkehrsfreiheit werden dem von innen heraus schaffenden Künstler zugute kommen. Büßte die Individualität Dürers etwas ein, weil er nach Italien und nach Holland zog? Oder gewann sie dadurch nicht vielmehr erst recht an Kraft und Klarheit wie an Einsicht in die eigenen Ziele? Wir halten’s in dieser Beziehung mit Gottfried Keller, dem oberdeutschen Dichter, der aber von sich selbst gesagt hat, daß seine Entwickelung ohne seinen Aufenthalt und seine Reisen in

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_384.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)