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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

sich auf eine Ecke des harten Holzstuhles nieder, der zwischen dem Bett und dem mit Wachsleinwand überzogenen Tische stand. Wohl eine Viertelstunde verging, ohne daß er auch nur gewagt hätte, sich zu rühren; dann meinte Frau Haberland plötzlich:

„Ich will versuchen, zu schlafen. Aber Du wirst hier bleiben, nicht wahr?“

Es bereitete ihm einen großen Schrecken, daß sie ihn mit „Du“ anredete, denn nur im Fieberwahn konnte ihr ja ein solcher Irrthum begegnen. Aber er beeilte sich trotzdem, sie zu versichern, daß er nicht von der Stelle weichen werde, so lange seine Anwesenheit ihr erwünscht sei. Die Alte murmelte etwas Unverständliches und kehrte das Gesicht gegen die Wand. Da die Hustenanfälle sich nicht wiederholten, meinte Hudetz, sie sei wirklich eingeschlafen, und rückte sich auf seinem Stuhle geräuschlos in eine etwas weniger unbequeme Lage. Ohne eine andere lebendige Gesellschaft als diejenige des schwer kranken Weibes, von qualvoller Angst durchzittert und unfähig, irgend etwas zu ihrem Beistande oder zur Erleichterung ihrer Leiden zu thun, starrte er unverwandt in das kleine röthliche Flämmchen der unangenehm dünstenden Lampe. Das Feuer in dem Küchenofen, auf welchem er den Thee bereitet hatte, war wieder erloschen, und ein unangenehmes Kältegefühl schlich ihm erstarrend durch die Glieder. Er dachte daran, sein Bild aus dem Nebenzimmer zu holen und sich mit der Betrachtung desselben, deren er ja niemals müde werden konnte, die Stunden dieser entsetzlichen Nacht zu verkürzen. Aber wie er einmal einen zaghaften Versuch machte, leise von seinem Sitz aufzustehen, bewegte sich die Alte unruhig und stieß abgebrochene Worte aus, die er für eine Mahnung an sein Versprechen nahm. So gab er seine Absicht auf, zog die dünnen Schöße seines Rockes über die frostbebenden Kniee und stierte von neuem in das Licht der Lampe, das ihn vielleicht nur darum so unwiderstehlich anzog, weil seine leise zitternden Bewegungen die Täuschung erwecken konnten, daß es etwas Lebendiges sei.

Wenn er nur ein Gläschen Branntwein gehabt hätte! Nur wenige Tropfen von dem herrlichen, wunderthätigen Getränk, das Vergangenheit und Gegenwart wie durch das Machtwort eines Zauberers in nichts versinken ließ und die köstlichsten Zukunftsbilder vor die Seele gaukelte. Er kannte ja die Wirkung dieses Lebenselixirs jetzt schon gut genug! Der Maurer, welcher ihm in dem verpesteten Kaffeekeller das Glas mit dem beizenden Nordhäuser zugeschoben hatte, war ihm ein Wohlthäter geworden, dem er im Grunde seines Herzens täglich von neuem dankte. Nicht, daß er eigentlich ein Trinker geworden wäre, wie es sein Vater war – o nein, der bloße Gedanke an diese Möglichkeit hätte ihn ja mit Grauen und Entsetzen erfüllt! Aber wenn er sich so durch das Gewühl der Straßen wand, unter dem breiten Rande seines Hutes hervor unausgesetzt nach rechts und links spähend, ob noch immer niemand Miene mache, ihn zu ergreifen – von jedem ungewöhnlichen Geräusch hinter seinem Rücken zu Tode erschreckt und oft von sinnloser Angst geschüttelt, wenn flüchtige Aehnlichkeit ihn in einer vorübergehenden Dame die Malerin aus dem Museum vermuthen ließ – dann konnte er doch zuweilen der Versuchung nicht widerstehen, in irgend eine abgelegene Schenke einzutreten und einen seiner wenigen Groschen für ein Gläschen Branntwein zu opfern. Jeder andere hätte nach dem Genuß einer so geringen Menge wohl kaum eine flüchtige Anregung seiner Lebensgeister gespürt; aber Hudetz’ Körper besaß eine so geringe Widerstandsfähigkeit gegen das bluterhitzende Gift des Alkohols, daß die wenigen Tropfen stets hinreichend waren, ihn aufs neue in jenen Zustand geistiger und körperlicher Spannkraft zu versetzen, dem er das Gelingen seiner verwegenen Rachethat gegen die grausame menschliche Gesellschaft ausschließlich zu verdanken hatte.

Dann konnte er sich dreist unter die geschäftige Menge mischen, erhobenen Hauptes konnte er die neugierigen Blicke erwidern, die sich auf ihn richteten – ja, es konnte ihm sogar ein eigenthümlich prickelndes Vergnügen bereiten, mit seinem Aermel den Mantel eines Schutzmanns zu streifen und sich an der gleichgültigen Miene des Mannes zu ergötzen, der ihn unbehelligt seiner Wege ziehen ließ, obwohl er sich mit einem einzigen Griff die Belohnung von tausend Mark hätte verdienen können, welche man auf die Festnahme des Galeriediebes ausgesetzt hatte.

In solchen Stunden hatte er wieder Pläne und Hoffnungen für die Zukunft, und nur in solchen Stunden war er imstande, an seinem Werke über die Brüder van Eyck zu arbeiten, an dessen Erfolg sich ja alle diese luftigen Pläne knüpften.

Warum hatte er nur gerade heute abend der Versuchung widerstanden, heute, wo eine so gewaltige Anforderung an die Ausdauer seines Körpers und an die Spannkraft seines Geistes gestellt wurde? Mit Freuden hätte er alles, was er besaß, für ein Glas des elendesten Fusels hingegeben. Er begriff mit einem Male, was seinen unglücklichen Vater aus dem häuslichen Jammer heraus immer und immer wieder so unbezwinglich in das Wirthshaus gezogen hatte, bis der letzte Kreuzer draufgegangen war. Wahrhaftig, er war sehr ungerecht gewesen, wenn er all diese Jahre hindurch stets nur mit Grauen und unsäglicher Verachtung an den halb verthierten Mann im Armenhause hatte denken können! –

Die Mitternachtsstunde ging vorüber. In einem dumpfen, schwermüthigen Hinbrüten, das zwischen Wachen und Schlafen die qualvolle Mitte hielt, zählte Hudetz die Schläge der Viertelstunden, welche in unendlichen Zwischenräumen die Thurmuhr der Dankeskirche verkündete. – Jetzt wieder – eins – zwei – drei! Dreiviertel auf zwei! – Wie grauenhaft lang war diese Nacht! Ihm war, als könnte er ihr Ende nimmer erleben.

Das Drahtgeflecht der eisernen Bettstätte knirschte. Die Kranke hatte sich bewegt, und als er sich hastig umwandte, sah er ihr gerade in die weitgeöffneten, brennenden Augen, die in den fleischlosen Höhlen eines Todtenkopfes zu liegen schienen.

„Bist Du dabei gewesen, als Deine Mutter starb?“ fragte sie, und Hudetz hatte Mühe, die Stimme wieder zu erkennen, die jetzt mit eigenthümlich röchelnden und pfeifenden Nebenlauten aus ihrer Kehle kam.

„Nein,“ sagte er, „aber Sie sollten jetzt nicht an Tod und Sterben denken, Frau Haberland! Der Schlummer hat Sie recht erquickt, nicht wahr?“

„Ich habe nicht geschlafen, – dazu ist ja nachher noch Zeit genug! – Also Du warst nicht dabei? – Nun, mein Sohn wird auch nicht dabei sein, wenn seine Mutter stirbt!“

„Ihr Sohn, Frau Haberland? Sie haben einen Sohn und haben doch nie von ihm gesprochen? – Wollen Sie, daß ich ihn von Ihrer Krankheit in Kenntniß setze?“

„Nein! – Ich will ihn nicht sehen – nie mehr – nie mehr! Denn er ist ein undankbarer, herzloser Wicht!“

Er wußte ihr nichts zu antworten, und es blieb wieder eine Weile still, dann sagte die Alte:

„Hole das Buch her, das im Schrank unter den Handtüchern liegt! Du kannst mir etwas vorlesen!“

Hudetz erhob sich sofort, und er fühlte erst jetzt, wie steif und fast empfindungslos seine Glieder geworden waren. Er mußte minutenlang suchen, ehe er das Verlangte fand, so sorgsam war es hinter Geschirr und Wäsche versteckt. Als er nun mit dem Buche an den Tisch trat, erkannte er, daß es derselbe dickleibige Foliant war, bei dessen Lesen sich seine Wirthin stets so ungern hatte überraschen lassen. Er schlug den schweren, schweinsledernen Deckel auf und sah mit Ueberraschung das Titelblatt einer alten, in gewaltigen Lettern gedruckten Bibel.

„Du wunderst Dich, nicht wahr?“ meinte die Alte, als hätte sie seine unausgesprochenen Gedanken errathen können. „Na, fromm bin ich auch nicht, – wenigstens nicht, was die Leute so nennen! – Und es geht ja auch am Ende keinen was an, ob ich fromm bin oder nicht! – Schlage ’mal die Seite auf, wo der Brief liegt, und lies mir den Spruch vor, der da steht. Ich habe ihn mit Waschblau angestrichen.“

Hudetz that schweigend nach ihrem Begehren. Das zusammengefaltete Blatt von der Form und dem Aussehen einer amtlichen Zustellung lag bei dem ersten Kapitel des Buches Ruth, die Stelle aber, welche Frau Haberland mit einem dicken, halb verwischten blauen Rande umgeben hatte und welche er ihr jetzt mit seiner leisen, traurigen, eintönigen Stimme vorlas, lautete:

„Rede mir nicht darein, daß ich dich verlassen sollte und von dir umkehren. Wo du hingehest, da will ich auch hingehen; wo du bleibest, da bleibe ich auch, dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott! Wo du stirbst, da sterbe ich auch, da will ich auch begraben werden. Der Herr thue mir dies und das, der Tod muß dich und mich scheiden!“

„Der Herr thue mir dies und das, der Tod muß mich und dich scheiden!“ wiederholte die Alte, und es war eine beklemmende

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_391.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)