Seite:Die Gartenlaube (1890) 394.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Feierlichkeit in der Art, wie sie langsam mit ihrer röchelnden, fast versagenden Stimme diese Worte sprach.

„Soll ich weiter lesen?“ fragte Hudetz, als wieder eine geraume Zeit unter tiefem Schweigen verstrichen war.

„Ist nicht nöthig! – Das ist mir immer das Liebste gewesen in dem ganzen Buch. – Es paßt so gut – ja, es paßt, als wenn es für mich geschrieben wäre! ‚Rede mir nicht darein, daß ich dich verlassen sollte‘ – na, er hat mir freilich nicht darein geredet, denn er war herzlich froh, wenn er ein Obdach fand, ein Bett und einen Teller mit Essen, sobald sie ihn einmal aus dem Kasten ließen! Aber der Junge, der verdammte, herzlose Junge, hat er mir nicht schon von seinen Schuljahren her immerfort in den Ohren gelegen, ich sollte mich von dem Alten scheiden lassen, weil er nicht einen Vater haben wollte, der im Gefängniß saß? Als wenn er ihm nicht das Leben gegeben, nicht manche liebe Nacht an seinem Krankenbette gewacht und nicht rechtschaffen für ihn gearbeitet hätte, bis der dreimal verfluchte Tischler-Ede ihn herum kriegte – Gott weiß, wie! – Darf ein Sohn seinen Vater verwünschen und ausspucken wie vor einer Kröte, wenn er seinen Namen nennen hört? Na, wie er das wieder einmal that – es war an seinem Konfirmationstage und er kam eben aus der Kirche, da schlug ich ihn mit dem hölzernen Löffel, den ich gerade in der Hand hatte, auf den Mund, daß das Blut aufspritzte – und seitdem ist er fort. – Ein Ballettänzer ist er geworden, und ich hätte ja manches Mal hingehen können, mir seine Luftsprünge anzusehen, ohne daß er eine Ahnung davon gehabt hätte. Aber ich hatte mirs zugeschworen: blind will ich werden, wenn ich das thue! – Und kein Stück soll er haben von meinen Siebensachen! – Du bist ein rechrschaffener Mensch, wenn Du auch schon im Gefängniß gesessen hast – und Dir soll alles gehören – auch das Sparkassenbuch unter meinem Kopfkissen – und die Bibel – hörst Du? – die Bibel auch – und – ach – was ist das – – August – August –“

Nicht ein einziges Mal hatte sie gehustet, trotz ihres anhaltenden Sprechens – nun aber kam es mit einem Mal – klanglos, erstickend, wie wenn sich ihr aus dem Innern der Brust ein fremder Körper in die Luftröhre gedrängt hätte. Hudetz sprang auf und beugte sich über sie herab. Sein Herzschlag stockte und das Entsetzen verzerrte seine Züge. Die knochigen Hände der Alten tasteten umher, als ob sie nach einer Hilfe, nach einem Beistand suchten, – sie würgte und ächzte und dann quoll plötzlich ein Strom hellen, schaumigen Blutes aus ihrem Munde.

Unfähig, ein Glied zu bewegen oder auch nur die Lippen zu einem Schrei zu öffnen, starrte Hudetz auf das Fürchterliche. Und so stand er noch immer in regungslosem Grauen, als das Blut längst aufgehört hatte zu fließen, als sich der alte, hagere Leib gereckt und gestreckt hatte wie zu einem langen Schlafe und als es wie ein Riß über die weit geöffneten Augen gegangen war, die seelenlos und verglast nach der grauen, schmutzigen Zimmerdecke stierten. So stand er noch immer, als er längst die Gewißheit gewonnen hatte, daß er nun der einzige Lebende in diesem Raume sei. – –

Vom Thurm der Dankeskirche schlug es halb drei. Die schwelende Lampe auf dem Küchentische brannte noch düsterer als zuvor, denn der Petroleumvorrath in dem kleinen Glasbehälter war fast erschöpft. Unten auf der Straße gröhlte ein Betrunkener ein wüstes Lied, und in der tiefen Stille hörte man auch die Stimme des Nachtwächters, der ihn zur Ruhe verwies. –

Als Hudetz an den Tisch trat, um die Lampe vollends auszulöschen, fiel sein Blick auf die Bibel und auf das amtlich aussehende Schriftstück, welches die Alte neben ihren Lieblingsspruch gelegt hatte. Fast mechanisch faltete er es auseinander. Da stand oben am Kopfe in Druckschrift:

„Der Direktor des Zuchthauses zu Sonnenburg.“ Und darunter von einer gleichgültigen, ausdruckslosen Kanzlistenhand:

„Es diene Ihnen zur gef. Kenntnißnahme, daß Ihr Mann, der wegen schweren Diebstahls im wiederholten Rückfalle zu fünfzehn Jahren Zuchthaus verurtheilte und bis dahin in der hiesigen Strafanstalt interniert gewesene Schlosser August Haberland, am 23. dss. Mts. an der Lungenschwindsucht verstorben und gestern auf dem Sträflingskirchhof begraben worden ist. – Bezüglich des Nachlassen, welcher aus verschiedenen Kleidungsstücken und einer kleinen, durch Ueberarbeit erworbenen Sparsumme besteht, wird Ihnen demnächst weiteres eröffnet werden.“

Das Schreiben trug den Poststempel des vorgestrigen Tages. Die Empfängerin hatte es also vorgezogen, jene weiteren Eröffnungen nicht mehr abzuwarten. –

„Wo du hingehest, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch –“ las Hudetz unwillkürlich auf der von Waschblau umränderten Stelle. Er sah sich noch einmal nach der Leiche um, und das fahle, faltige Todtengesicht erschien ihm jetzt minder schrecklich als zuvor.

Wohl war es nur das harte, unschöne Antlitz eines armen, alten, in Kummer und Arbeit ergrauten Weibes aus dem Volke; aber der ehemalige Student meinte etwas von dem verklärenden Schimmer der Liebe darauf zu sehen – jener Liebe, die stärker ist als die Noth und mächtiger als der Tod. – –

Und jetzt fand er auch den Muth, mit seinen Fingerspitzen sanft die gebrochenen Augen der alten Frau zu schließen, ehe er sich im Nebenzimmer angekleidet auf sein Lager warf. –

Noch kämpfte der junge Tag mit den Schatten der Dämmerung, als Joseph Hudetz nach vorsichtiger Beobachtung seiner nächsten Umgebung auf die Straße hinaustrat. Statt des auffallenden grauen Kragenmantels, den er nach dem Tage des Galeriediebstahls überhaupt nicht mehr angelegt hatte, trug er einen dünnen, abgeschabten Sommerüberrock; mit der Linken aber umklammerte er in ängstlichem Druck den ledernen Henkel des kleinen Handkoffers, welcher seine Habe und sein kostbares Geheimniß barg.

Unschlüssig blickte er nach rechts und links, dann aber schlug er die Richtung ein, welche ihn dem Centrum des erwachenden Berlins entgegenführte. Wohin er ging, er wußte es nicht. Sein Weg hatte kein Ziel und kein Ende; ins Unbestimmte, Nebelhafte führte er hinaus, – vielleicht noch einmal in einen Hafen kurzer, trügerischer Ruhe, vielleicht auch in jenen tiefen, nie gemessenen Abgrund, aus welchem keine Wiederkehr ist an das Licht des Tages.

Niemand aus der Nachbarschaft sah ihn gehen, – niemand kümmerte sich um ihn – spurlos verschwand er in dem ungeheuren Getriebe der vom nächtigen Schlummer erstehenden Millionenstadt.




Als Marie von Brenckendorf nach jener unglücklichen Ballnacht ihr Stübchen aufgesucht hatte, da war es ihr als unabänderlich erschienen, daß der nächste Tag etwas Außerordentliches bringen müßte – eine Lösung und Klärung, und wäre es auch um den Preis all ihrer Hoffnungen und Wünsche.

Aber das Außerordentliche, auf welches sie sich bereitet hatte, war nicht geschehen. Ja, sie selber würde kaum imstande gewesen sein, es herbeizuführen, auch wenn sie die Entschlossenheit und die Kraft des Willens dazu besessen hätte.

Wohl erwachte sie am folgenden Morgen mit der Gewißheit, daß sie eine Erklärung von Engelbert fordern müsse. Aber als sie dann bei ihrem Eintritt in das Frühstückszimmer sah, daß sein Platz leer war, als sie ohne ihre Frage aus einer absichtslosen Aeußerung Cillys erfuhr, daß ihn dienstliche Pflichten schon vor einer Stunde abgerufen hätten und daß er vielleicht nicht einmal zum Mittagessen wiederkommen würde, da athmete sie doch wie in tiefer Erleichterung auf und dankte in ihrem Herzen dem Zufall, welcher die unvermeidliche Auseinandersetzung wenigstens noch um einige Stunden hinausgeschoben hatte.

Und jenes Andere, vor dem sie sich noch viel mehr gefürchtet hatte: ihre erste Wiederbegegnung mit Lothar, sie ging so ruhig und unauffällig vorüber, als wäre ihr Gespräch in der verflossenen Nacht nichts anderes gewesen denn ein häßlicher Traum. Er empfing sie mit derselben Verbeugung, die an jedem Morgen seine Erwiderung auf ihren Gruß gewesen war, und wenige Minuten nach ihrem Eintritt ging er mit dem Bemerken, daß er im Moabiter Justizgebäude zu thun habe, aus dem Gemache. Niemand konnte auf den Gedanken kommen, daß es Mariens Erscheinen gewesen sei, welches ihn vertrieben habe, – auch dem schärfsten Beobachter würde kein Anlaß zu der Vermuthung gegeben worden sein, daß zwischen ihnen über Nacht irgend etwas anders geworden sei als zuvor.

Unter der Nachwirkung der nächtlichen Strapazen mußte es begreiflich erscheinen, daß eine rechte Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit im Hause des Generals heute nicht aufkommen wollte, und Mariens Blässe, ihre Wortkargheit und Zerstreutheit bedurften darum kaum einer besonderen Erklärung. War doch selbst Cilly, die sich sonst mit einigem Stolz ihrer Unverwüstlichkeit rühmte, heute sehr still und von einer eigenthümlichen Weichheit des

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 394. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_394.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)