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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Engelbert kurz vor Beginn der Tafel nach Hause zurückkehrte. An dem Essen nahmen einige höhere Offiziere als Gäste theil, und es war nicht sehr verwunderlich, wenn die fast ausschließlich auf militärische Angelegenheiten bezügliche Unterhaltung dem Dragonerlieutenant wenig Zeit ließ, sich einem Gespräch mit den beiden jungen Damen zu widmen. Nach aufgehobener Tafel wurde er zu einer Spiel-Partie herangezogen, und für die späteren Abendstunden war er zu einem von Kameraden veranstalteten Liebesmahl geladen. So hätte Marie vergebens nach einer Möglichkeit gesucht, ihn unbelauscht und ungestört zu sprechen.

Allerdings war Engelbert sonst in dem Bemühen eine Gelegenheit zu solcher verstohlenen Zwiesprache herbeizuführen, vielleicht geschickter und erfinderischer gewesen als gerade heute, wo sich bei ernstem Willen ein geeigneter Vorwand für ihn doch wohl hätte ersinnen lassen. Dafür aber, daß er ein Alleinsein mit Marie etwa geflissentlich vermieden hätte, bot sich in seinem Benehmen jedenfalls ebensowenig ein Anhalt – und als er ihr beim Fortgehen Gutenacht sagte, traf sie für eine flüchtige Sekunde ein ebenso begehrlicher und glühender Blick wie gestern bei der tollen Mazurka, an die sie noch immer nicht ohne schamhaftes Erbeben und ohne einen peinigenden Groll über ihre eigene Schwäche zurückdenken konnte.

Nun endlich fand Marie die lang ersehnte schickliche Gelegenheit, sich unauffällig zurückzuziehen. Aber als sie allein war, fiel ihr die Erinnerung an die Ereignisse der Nacht doch mit verdoppeltem Gewicht auf die Seele, und sie war bitter unzufrieden mit sich selbst. Niemals gewöhnt, nach einer beschönigenden Umschreibung für ihre eigenen Fehler zu suchen, schalt sie sich feige, weil sie einem festen und durch ihre schwesterliche Pflicht unweigerlich gebotenen Vorsatz untreu geworden war. Wohl hatte sie im Verkehr mit Engelbert unwillkürlich einige Zurückhaltung beobachtet; aber sie hatte ihm doch durch kein Wort und keine Miene gezeigt, daß er sie tief beleidigt habe, sie hatte ihm ihre Hand gereicht wie sonst und hatte sich nicht von ihm abgewendet, als sie seinen verwegenen, vielsagenden Blick auf sich ruhen fühlte.

„Das alles ist ja nur um der anderen willen geschehen!“ wollte eine Stimme in ihrem Herzen ihr zuflüstern, aber Marie klammerte sich nicht an diese naheliegende Entschuldigung, sondern war ehrlich genug, sie vor sich selber als eine Lüge zu bezeichnen.

„Nein, auch wenn ich mit ihm allein gewesen wäre, würde ich nicht die Kraft gefunden haben, jene Erklärung von ihm zu fordern!“ sagte sie sich mit schmerzlicher Beschämung, und mit tiefem Bangen fügte sie die Frage hinzu: „Was aber soll nun werden?“

Ja, was sollte nun werden? So wie der heutige Tag würde auch der nächste und der übernächste verlaufen; mit jeder weiteren Stunde des Zauderns würde es ihr schwerer und schwerer werden, Genugthuung für ihren Bruder zu fordern, bis es endlich völlig unmöglich geworden war. Freilich, es wußte ja niemand, daß sie eine Zeugin seiner Beschimpfung gewesen sei – niemand außer Lothar, und der Gedanke, daß er sie an Wolfgang verrathen könnte, beunruhigte sie nicht für einen einzigen Augenblick. Aber sie gewann keine Erleichterung aus dieser Gewißheit seines Schweigens. Denn daß er sich mit dem Verrath an seiner Freundschaft gewissermaßen zu ihrem Mitschuldigen gemacht hatte, war ja um den Preis seiner Achtung geschehen; nicht eine Uebereinstimmung der Gesinnung, sondern ein geringschätziges Mitleid hatte ihn zu ihrem Bundesgenossen gemacht – sein Schweigen war eine Demüthigung, ein stummer und doch unerträglich beredter Ausdruck seiner Verachtung!

War ihre Liebe für Engelbert denn wirklich so heiß und tief, daß sie um ihretwillen Tag für Tag die Last dieser kläglichen Erkenntniß weiterschleppen mochte? Ach, wenn sie nur eine Antwort gehabt hätte auf diese immer wiederkehrende Frage! Jetzt, wo sie seine schöne, ritterliche Erscheinung nicht vor sich sah, wo sie den Klang seiner volltönenden, einschmeichelnden Stimme nicht vernahm, hatte sie wahrlich nicht den Muth, sich selbst mit einem freudigen, rückhaltlosen „Ja“ zu belügen. Noch immer fühlte sie etwas von dem Nachzittern des tödlichen Schreckens, der sie durchzuckt hatte, als sie in dieser Nacht ihrem Vetter Lothar die Erklärung gegeben hatte, daß sie seinen Bruder liebe. War das wirklich nur die spröde Scham des jungfräulichen Herzens gewesen, das sich wider Willen sein kostbarstes Geheimniß entreißen ließ, oder hatte sie in jenem Augenblick unter der unbarmherzigen Klarheit, die von dem gesprochenen Wort ausgeht, erkannt, daß jenes Geständniß eine Unwahrheit, daß ihre Liebe eine Täuschung gewesen sei wie Cillys Neigung für den Prinzen von Waldburg?

Nein, sie durfte nicht daran denken, daß es so sein könnte! Und es war ja auch unmöglich! Hatte sie Engelberts heißen Liebesworten denn nicht mit Entzücken gelauscht? Hatte sie denn nicht mit wonnigem Erschauern seine brennenden Lippen auf ihrem Munde gefühlt? Wenn sie jetzt außer stande war, die Seligkeit jener Augenblicke durch die Erinnerung von neuem wachzurufen, so konnte nur eine vorübergehende Verstimmung ihres ganzen Wesens, nicht ein Erkalten oder Erlöschen ihrer Liebe die Schuld daran tragen, und nur aus dieser Verstimmung war es wohl auch zu erklären, wenn sie so heftig vor dem Gedanken erzitterte, daß das erste Gespräch unter vier Augen, welches sie aus Anlaß jener Ballunterhaltung über ihren Bruder mit Engelbert führen würde, nothwendig entweder einen Bruch oder ein öffentliches Bekennen ihres Herzensbündnisses im Gefolge haben müßte. Ihrer weiblichen Würde war sie es ja ohnedies schuldig, dies letztere von ihm zu fordern, aber sie wußte nicht, ob es die Verlobung mit Engelbert oder der Bruch mit ihm war, was ihr in diesen Stunden quälenden Zweifels als das Fürchterlichste erschien.

Was sie auch thun mochte – das eine wie das andere konnte sie unglücklich machen, und zu dem einen wie zu dem anderen gebrach ihr der Muth. Daß sie ihren Bruder von ganzem Herzen liebte, daß eine Kränkung, welche ihm widerfuhr, sie selbst aufs schmerzlichste traf – niemals hatte sie es deutlicher empfunden als gerade jetzt; aber sie besaß dessenungeachtet ebensowenig die Entschlossenheit, mit ihrer eigenen Person für ihn einzutreten, als zu ihm zu eilen und ihm alles zu beichten. Später – morgen vielleicht oder nach einer kleinen Anzahl von Tagen – wollte sie ihm ja gerne reuig bekennen, was sie an ihm gesündigt hatte; jetzt aber mußte sie Zeit gewinnen – Zeit, um zur Klarheit zu gelangen über sich selbst und um den Weg zu finden, welchen sie einschlagen durfte, ohne ihr eigenes Lebensglück zu zerstören.

Als sie am nächsten Morgen das Frühstückszimmer betrat, hatte sich die Zahl der Gedecke um eines verringert. Lothar erschien nicht, und man hatte ihn offenbar auch gar nicht erwartet. Niemand erwähnte seiner, und obwohl sich ihre Gedanken unausgesetzt mit ihm und mit den muthmaßlichen Gründen seines Fernbleibens beschäftigten, würde Marie es doch niemals übers Herz gebracht haben, eine Frage nach ihm zu thun. Doch als sie nachher mit Cilly allein war, duldete es sie nicht länger in dieser Ungewißheit, und scheinbar beiläufig, doch mit stockender Stimme, erkundigte sie sich nach dem Assessor.

„So weißt Du gar nicht, daß er heute in aller Gottesfrühe ausgezogen ist?“ fragte Cilly verwundert. „Gestern im Laufe des Tages hat er sich in Moabit eine eigene Wohnung gemiethet, und am Abend hat er uns ohne viele Umstände das Quartier aufgekündigt. Der Weg, den er täglich zu machen hatte, um sich mit seinen geliebten Verbrechern zu unterhalten, war ihm wohl zu unbequem, und außerdem störte ihn die Geselligkeit, die zu seinem Entsetzen in unserem Hause gepflegt wird. Mit der bewunderungswürdigen Offenheit, die ihm nun einmal eigenthümlich ist, erklärte er gestern abend in unserer Gegenwart dem Papa, er halte neun Zehntel aller Abendgesellschaften, Bälle, Gastmahle und musikalischen Thees für die sündhafteste Vergeudung von Zeit und Kräften, und er sei entschlossen, sich von diesem hohlen Treiben viel entschiedener fernzuhalten, als es ihm unter unserem Dache möglich wäre. Nun, es hat keines von uns den Versuch gemacht, ihn mit Bitten und Thränen zum Dableiben zu bewegen. Ein wie guter Mensch er auch ist, hier steht er mit seiner pedantischen Schwerfälligkeit doch überall im Wege.“

Bei ihrem eifrigen Geplauder hatte sie kaum beachtet, daß Marie plötzlich das Gesicht abgewendet und sich sehr angelegentlich mit den Notenheften auf dem Flügel zu schaffen gemacht hatte, und sie fand es auch durchaus nicht auffällig, daß ihre Base das Gespräch sehr rasch auf einen anderen Gegenstand lenkte. Ihr Bruder Lothar war ja eine so uninteressante Persönlichkeit! –

Wie lebhaft würde sich wohl ihre Verwunderung geäußert haben, wenn sie gesehen hätte, daß in Mariens Augen die hellen Thränen schimmerten – Thränen der Beschämung, des Zornes und des uneingestandenen Kummers. Sie wußte ja besser als alle anderen Bewohner des Hauses, weshalb Lothar von Brenckendorf sich eine andere Heimstätte gesucht hatte! –

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_396.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)