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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Im Garderobegang.

deutsches Vaterland verwüsteten, ward im Waldthale der oberen Ammer der Anfang dieser Spiele gemacht. Es war im Jahre 1633; eine todbringende Seuche hauste im Thale, und die Mönche des benachbarten Klosters Ettal, die geistlichen Seelenwächter der Ammergauer, veranlaßten diese zu einem Gelübde, alle zehn Jahre die Leidensgeschichte Christi darzustellen. Die Klosterherren sorgten auch für die Dichtung, für die Musik und den Theaterbau, und die erste Aufführung fand 1634 statt.

Die Dichtung soll dazumal, dem verwilderten Zeitgeschmack entsprechend, manche roh burleske Züge enthalten haben; aber sie läuterte sich im Laufe der Zeit, und das fromme Spiel ward von den Thalbewohnern, treu ihrem Gelübde, alle zehn Jahre wiederholt.

Am Anfang unseres Jahrhunderts wehte ein kühler Luftzug durch das bayerische Staatswesen, der manche alte Einrichtung hinwegfegte. Auch das Ammergauer Passionsspiel wäre ihm beinahe zum Opfer gefallen; denn als die Ammergauer im Jahre 1810 um die obrigkeitliche Erlaubniß zur Aufführung ihres Passionsspieles baten, wurde ihnen dieselbe versagt. Da machten sich einige wackere Ammergauer Männer auf, um als Vertreter ihres Dorfes nach München zu wandern und da beim hohen geistlichen Rathe sich die Erlaubniß zu holen. Hier scheinen sie noch übler behandelt worden zu sein als von ihrer heimischen Polizeibehörde; man drohte ihnen sogar mit polizeilicher Ausweisung aus München. Und die Kloster Klosterherren von Ettal waren auch nicht mehr da, um sich ihrer Ammergauer anzunehmen; denn das Kloster war schon seit Jahren aufgehoben.

In dieser Nothlage wandten sich die Ammergauer an den König Max Joseph selbst. Der leutselige Herrscher hatte einen klareren Blick für die Lebenslagen seines Volks als mancher seiner bureaukratischen Gewalthaber; er zeigte sich den Ammergauern geneigt, und sie erhielten wirklich die Erlaubniß zu ihrem Passionsspiele; dieselbe ward ihnen, nachdem sie schon abgezogen waren, noch nachgeschickt.

Daß indessen die bisherigen Aufführungen manches Anstößige enthielten, war den braven Ammergauern von niederen und höheren Behörden genugsam gesagt worden; und es galt nunmehr, eine zeitgemäße Umgestaltung des Textes vorzunehmen.

Das war eine schwere Aufgabe; denn wie sollten die schlichten Bauern und Holzschnitzer auf einmal dramatische Dichter und Regisseure werden? Aber einer der vormaligen Ettaler Mönche, ein Doktor Ottmar Weiß, half ihnen über die Schwierigkeit weg. Er verwandelte die schwülstigen gereimten Verse des Textes in eine klarere Prosa und beseitigte allerhand schwere Allegorien, insbesondere aber die Teufel, welche vordem eine wichtige Rolle in dem Spiele innegehabt hatten. – Der so entstandene Text gewann einfachere, menschlichere Gestalt. Er geht von dem Grundgedanken aus, die Ereignisse der alttestamentlichen Geschichte als prophetische Vorbilder des Erlösungswerkes Christi in die eigentliche Passion zu verflechten und so den Zuhörern vor Augen zu führen, wie alles, was vor Christus geschehen sei, nur ihn vorbereiten sollte. Die alttestamentlichen Ereignisse aber wurden als lebende Bilder in die dramatisch gegebene und gespielte Leidensgeschichte des Erlösers verflochten. Und damit eine erklärende Verbindung zwischen diesen lebenden Bildern und dem Drama gegeben werden könnte, wurde ein begleitender und erklärender Chor geschaffen. Eine Musik zu dem ganzen Spiele schrieb der Ammergauer Dorfschullehrer Dedler.

So ward die Umgestaltung vollendet und im Jahre 1811 das Spiel zum ersten Male in seiner neuen Form aufgeführt. Seit dem Jahre 1820 fanden die Vorstellungen in jedem Jahrzehnt in ununterbrochener Reihenfolge statt. Bis zu der Vorstellung des Jahres 1830 war der Kirchhof zugleich Platz für das Theater gewesen, im genannten Jahr aber wurde das Theater auf einer Wiese neben dem Dorfe errichtet, wo es auch jedenfalls eine bessere Stätte hat.

Heute noch wird aber das Spiel nicht bloß als eine Sache der Ehre und des gemeindlichen Nutzens aufgefaßt, sondern als die Erfüllung eines frommen Gelübdes der Vorfahren. Nur Gemeindeglieder von Oberammergau dürfen mitspielen; die Begeisterung und das Talent für das Spiel pflanzen sich in den Familien fort. Wie mächtig dieses Spiel in die ganze Lebenshaltung der Dorfbevölkerung eingreift, ist wohl schon daraus zu erkennen, daß von den etwa 1300 Einwohnern ungefähr die Hälfte an dem Spiele betheiligt ist, theils als Schauspieler, theils als Statisten, Kassirer, Aufseher, Theaterzimmerleute, Dekorationsmaler und dergleichen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 398. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_398.jpg&oldid=- (Version vom 15.2.2022)