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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

gestiegen, so wacht der Gequälte auf; der Alp wird abgeschüttelt, und manche greifen nach dem Puls, um zu sehen, ob sie noch leben.

Börner hat in den fünfziger Jahren genaue Beobachtungen über das Alpdrücken angestellt.[WS 1] Zunächst wählte er jugendliche Personen, die offenkundig daran litten. Während sie fest und ruhig schliefen, schob ihnen Börner die Decke sanft über das Gesicht, wobei er den Mund ganz und die Nasenlöcher nur zum größten Theil bedeckte. Dadurch wurde die Athmung erschwert, und die Folgen davon zeigten sich alsbald dem Beobachter. Die Schlafenden machten tiefe, langgedehnte Athemzüge; man sah, wie der Brustkorb angestrengt arbeitete, das Gesicht sich röthete, die Halsadern anschwollen; später stöhnten und ächzten die Träumenden, um endlich unter einer heftigen Bewegung zu erwachen. Jetzt gaben sie Auskunft über ihre Empfindungen; ein wüster Traum hatte ihnen den lebenden Alp auf der Brust vorgespiegelt.

Im weiteren Verlauf wurden neue Versuche mit 20 Personen gemacht, die bis dahin niemals an Alpdrücken gelitten hatten. Die meisten von denselben kannten die Alpgeschichte aus Erzählungen, und die Decke über dem Gesicht gaukelte ihnen entweder den echten Alp oder ein ähnliches die Brust beklemmendes Hinderniß vor. Aber auch bei denjenigen, denen die Geschichte nicht bekannt war, kam, durch die Athemnoth verursacht, ein dem Alp ähnliches Traumbild zustande, immer hat sich bei ihnen etwas auf die Brust niedergelassen. Die Abweichungen von dieser Regel waren sehr selten. Die eine der Versuchspersonen träumte, sie sei von einem wilden Thiere außer Athem gehetzt, und zwei andere hatten nur das Gefühl von Angst, Athemnoth und Bewegungslosigkeit, ohne daß ein Traumgesicht sich ausgebildet hätte.

Die Versuche Börners werfen auch ein Licht darüber, wie die Träume entstehen. „Der Charakter, den der Träumende dem Alpwesen beilegte, hing meist von dem Gegenstande ab, dessen er sich zur Bedeckung des Gesichtes bediente. Tuch, namentlich solches von etwas rauher oder zottiger Beschaffenheit, gab stets die Vorstellung von einem behaarten Thiere, welche infolge einer ganz logischen Schlußfolge zustande kam. Der Träumende fühlt nämlich, daß etwas früher nicht Dagewesenes sich auf seine Athmungsorgane lagert. Daraus folgt, daß dieses Etwas mit selbständiger Bewegungsfähigkeit ausgestattet, also ein Thier sein muß. Die Gesichtsnerven nehmen aber etwas Zarthaariges wahr, folglich muß das Thier ein mit weicher Wolle oder weichem Haar versehenes, also etwa ein Pudel, eine Katze sein. Der ziemlich gleichmäßige Alptraum hat sonach nichts Auffallendes; er hat eine deutliche äußere Veranlassung, aus der er gebildet wird.“

Die abenteuerlichen Gehirnspiele des Traumes haben ihre ernsten Seiten. Es ist hier nicht der Ort, zu erwägen, welche Rolle die Traumdeutung in früheren Zeiten gespielt hat und welche Bedeutung sie noch heute bei ungebildeten Völkern hat. Tausende und Abertausende von Menschen sind Träumen zu Opfern gefallen, und der berüchtigte König Mtesa im inneren Afrika ließ infolge seiner Träume Hunderte seiner Waganda hinrichten. Wir möchten hier nur einer anderen Eigenthümlichkeit des Traumes erwähnen, der Fälle, wo er über den eigentlichen Schlaf hinausdauert und Menschen zu Handlungen hinreißen kann.

Zwischen Schlaf und Wachen giebt es einen länger oder kürzer dauernden Zustand, die Schlaftrunkenheit, in welchem die Verbindungsfäden mit der Außenwelt beim Einschlafen noch nicht vollständig abgelöst, beim Erwachen noch nicht vollständig wieder angeknüpft sind. „Die Sinne sind in ihm noch wach oder schon erwacht,“ sagt der Gerichtsarzt J. L. Casper, „aber sie sind umhüllt vom Nebel der Traumgebilde; der Schlaftrunkene sieht und hört, aber er sieht selbstgeschaffene Gespenster statt der wirklichen Gegenstände; er hört einen Schuß fallen, von dem er gerade träumte, während nur ein Stuhl umfiel. Er reagirt in gewohnter logischer Folge, die bekanntlich auch im tiefsten Traum fortdauern kann, da die Muskelthätigkeit im Schlafe nicht gehemmt ist, auf die gesetzwidrigste Weise. Der berühmte Fall des Bernard Schidmaidzig, der im Traume ein fürchterliches weißes Gespenst auf sich zukommen sieht, halb erwacht mit seiner Axt darauf einschlägt und seine Frau tödtet; der junge Mann, der an ängstlichen Träumen litt, zumal in mondhellen Nächten, der in einer solchen, als sein Vater aufstand und er die Thür knarren hörte, aufsprang, seine Doppelflinte nahm und den Vater durch die Brust schoß; der Mensch, der, bedrückt von einem Traum, worin er mit einem Wolf kämpfte, den neben ihm schlafenden Freund mit einem Messerstich tödtete; Taylors Hausirer, der einen Stockdegen bei sich trug, auf der Landstraße eingeschlafen war und, von einem Vorübergehenden aufgerüttelt, seinen Stockdegen zog und den Fremden tödlich verletzte[WS 2] – diese und ähnliche ältere Fälle geben traurige Belege dafür, daß auch die schrecklichsten Thaten im Traumleben der Schlaftrunkenheit verübt werden können.“

In neuerer Zeit hat sich, Dank der schärferen Beobachtung, die Zahl der wundersamen im Traume vorgenommenen Handlungen vermindert, und wie verbürgte Fälle von Langschläfern selten geworden sind, so hört man auch weniger von jenem räthselhaften Zustand, der als Schlaf-, oder Nachtwandeln bekannt ist und früher nicht nur in Romanen eine bedeutende Rolle spielte.

Was man vor Jahrzehnten selbst bei Gerichten für möglich hielt, beweist beispielsweise der Fall des nachtwandelnden Knechtes in Halle. Er verliebte sich in ein Mädchen, und beide versprachen sich die Ehe. Aber ein anderer Liebhaber des Mädchens erregte seine Eifersucht. Eines Nachts stand der Knecht auf, stieg aus seinem Dachfenster, ging über die Dächer bis zum Fenster des benachbarten Hauses, stieg durch dasselbe hinein in die Kammer und ermordete das schlafende Mädchen mit dem Messer, das er mitgenommen hatte. Auf demselben Wege ging er wieder zurück. Bei der Untersuchung stellte er den Vorfall wie einen Traum dar, den er gehabt habe. So leicht dürfte heute ein Mord aus Eifersucht sich nicht entschuldigen lassen!

Man hat den Schlafwandelnden außerordentliche Befähigungen zugesprochen; ihr Geist sollte in dem eigemthümlichen Zustande besonders geschärft sein, und Dank dieser Verschärfung der Sinne und des Geistes sollte der Nachtwandler an den gefährlichsten Abgründen klettern, auf den schmalsten Stegen gehen, weite Sprünge vollführen, ohne sein Ziel zu verfehlen. Schon Johannes Müller hat an Stelle dieser wunderbaren eine einfachere Erklärung der beim Schlafwandeln beobachteten Thatsachen gegeben. Der Schlafwandler vollführt vieles, weil er die Gefahr, die ihm droht, nicht bemerkt, aber er ist gegen die Gefahr nicht gefeit, und er kann ebensogut im Augenblicke des Erwachens wie noch im Schlafe aus dem Fenster stürzen, wenn ihn sein dunkler Drang dorthin getrieben hat.

Die medizinische Litteratur kennt nur wenige gut beobachtete Fälle von Schlafwandel. Sie entkleiden die Krankheit der romanhaften Färbung, die ihr verliehen wurde.

C. Binz berichtet über einen von ihm behandelten und geheilten Fall, der mit Alpdrücken verbunden war.[1]

Es handelte sich um einen durchaus gesunden, mit raschem Einschlafen und bei Abwesenheit der schädlichen Ursachen mit festem Schlaf begabten jungen Mann von lebhaftem Temperament. So weit eine Rückerinnerung möglich, waren seine Vorfahren, Verwandten, wie auch die lebenden Familienmitglieder frei von irgend welchem psychischen Leiden oder auch nur nervösen Anlagen. Außer den gewöhnlichen Kinderkrankheiten hatte jenem jungen Mann nie etwas gefehlt. Seit den Jahren der Reife litt er entweder an Alpdrücken oder an Schlafwandeln bis etwa zu seinem 35. Lebensjahre. Ersteres trat in den schreckhaftesten Formen auf; dem Bildungsstandpunkte des Kranken angemessen allerdings nicht in der Form eines lebenden Alpwesens, sondern stets als ein fürchterliches Erstickungsgefühl. Das Schlafwandeln zeigte sich als Aufsitzen im Bett, mit Aussprechen mehr oder weniger zusammenhängender Worte, als Aufstehen vom Lager und Umhertappen im Zimmer, als Ankleiden und Zusammenraffen von anderntags zu gebrauchenden Gegenständen und endlich einmal als geschicktes Klettern auf einen vom Monde matt beleuchteten, 6 Fuß hohen Porzellanofen, von welchem seine junge Frau den Schlafturner herunterholte. Beim Erwachen blieb meistens keine Erinnerung an ein Traumbild übrig. Zuweilen waren während des Vorganges die Augen offen; wurde Licht gemacht, so erfolgte das Erwachen in kürzester Frist. Die Folgen dieser Zustände bestanden in Ermüdung und Abgeschlagenheit während des Tages und in einer wohlberechtigten Furcht vor jeder kommenden Nacht, denn es stand nichts im Wege, daß der Schlafwandelnde auch einmal seinen Weg durch ein Fenster auf


  1. Real-Encyclopädie der Heilkunde. Urban und Schwarzenberg, Wien. Bd. XVII. S. 368 u. ff.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Johann Börner: Das Alpdrücken, seine Begründung und Verhütung. Würzburg 1855 MDZ München
  2. Alfred Swaine Taylor: The Principles and Practice of Medical Jurisprudence. London 1865, S. 1131 Google
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 403. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_403.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)