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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

zu verschaffen; es war wie ein Katarakt mit seinen tosenden Wassermassen. Fast jede Nacht fiel plötzlich ein abgestorbener Baum krachend, berstend und rauschend und schlug mit einem die Erde erschütternden Getöse auf den Boden auf.“

Düster, mit Nebeln verhüllt, mit dichtem Gebüsch am Ufer bewachsen, war auch der Strom, der anfangs in dieser Waldwildniß als Wegweiser diente. Das zerlegbare Boot und einige Kanoes bildeten die Wasserabtheilung der Karawane, der Rest zog zu Lande. Der schlimmste Feind, dem Stanley in diesem Walde begegnete, war der Hunger. Jede Banane, jedes Huhn mußte theuer erkauft oder erkämpft werden. Die Leute wurden, wenn sie einzeln auf Nahrungsmittelsuche ausgingen, von den im Hinterhalte liegenden Eingeborenen angegriffen, mit vergifteten Speerspitzen oder von den vergifteten Pfeilen verwundet, und manche erlagen trotz sorgfältigster Pflege nach Tagen und Wochen im schrecklichen Starrkrampf den gefährlichen Wunden. Die anderen waren von den Mühsalen und der schlechten Nahrung erschöpft – und immer war noch das Ende der Wildniß unabsehbar. Am 1. September 1887 war man damit beschäftigt, das Boot über Land zu befördern, um eine Stromschnelle zu umgehen. Da stürzte der europäische Diener Stanleys herbei und schrie: „Herr, o Herr, Emin Pascha ist angekommen!“

„Emin Pascha?“

„Ja, Herr! Ich habe ihn in einem Kanoe selbst gesehen. Seine rothe Flagge, gerade wie die unsrige (die ägyptische), ist am Heck aufgezogen. Es ist ganz gewiß, Herr!“

Bittere Täuschung! Man war mit Manjema[1], Sklavenjägern der Araber, zusammengekommen und näherte sich einer ihrer Ansiedelungen. Der Führer derselben hieß Ugarrowa, früher war er als Uledi Zeltdiener des Entdeckers der Nilquellen, J. Spekes, gewesen.

Stanley wurde von dem Araberhäuptling freundlich empfangen; er rückte weiter ins Innere vor, wo sich etwa 20 Tagemärsche weit eine zweite Kolonie unter Befehl des Arabers Kilonga Longa befinden sollte. 50 Invaliden mußten bereits in dem Lager Ugarrowas zurückgelassen werden. Die Vorhut begegnete wirklich einer Abtheilung der Leute Kilonga Longas und erfuhr, daß sie nur etwa fünf Tagemärsche von der Burg der Sklavenjäger entfernt sei, daß aber dazwischen ein völlig unbewohntes Land liege. Und man hatte schon so lange gehungert! Kapitän Nelson, einer der weißen Offiziere Stanleys, litt an Geschwüren und 52 Neger waren invalid, zu Skeletten abgemagert.

Da wurde beschlossen, daß die Kranken unter Befehl Nelsons in einem Lager am Flusse bleiben, die Gesunden aber Kilonga Longa zu erreichen suchen sollten, um dann den Geschwächten Nahrungsmittel zu bringen.

„Man hätte,“ schreibt Stanley über das Lager Nelsons, „keinen düstereren Ort auswählen können, als diese Terrasse. Rundherum von Felsen umschlossen, war sie von den dunkeln, vom Flußrande bis zur Höhe von etwa 185 m aufsteigenden Waldungen eingeengt und von dem unaufhörlichen Tosen umgeben, welches der kochende wirbelnde Strom und die beiden sich gegenseitig an Getöse überbietenden Wasserfälle verursachten. Die Phantasie schaudert bei dem Gedanken an die hilflose Lage der Verkrüppelten, die verdammt waren, unthätig zu sein, jeden Augenblick das schreckliche Getöse der erzürnten, in unversöhnlicher Wuth dahinstürmenden Gewässer und den eintönigen, anhaltenden Donner der fallenden Wassermassen zu hören, die springenden, rollenden und im ewigen Kampfe um die Herrschaft sich überschlagenden Wellen zu beobachten, wie sie von der unaufhörlichen Kraft der dahinschießenden Strömung in weit auseinandergerissene weiße Schaumfetzen zerpeitscht wurden, und auf die dunklen unbarmherzigen Wälder hinabzublicken, welche sich flußaufwärts und rundherum ausdehnen und beständig in ihrem langweiligen Grün dastehen und über vergangene Zeiten, Jahrhunderte und Generationen trauern. Man denke sich dann die Nacht mit ihrer greifbaren Dunkelheit, dem tiefschwarzen Schatten der bewaldeten Hügel, dem ewigen wüthenden Getöse, dem unaufhörlichen Aufruhr der Katarakte, den unbestimmten Gestalten, welche Nervosität und Furcht schaffen, dem Elend, welches die Einsamkeit und die heranschleichende Besorgniß vor dem Verlassenwerden hervorruft, und man wird sich die wahre Lage dieser armen Leute vergegenwärtigen können.“

Und nicht besser war es mit denjenigen bestellt, welche nach Kilonga Longa am 7. Oktober um 6½ Uhr morgens im Leichenträgerschritt aufgebrochen waren. „Als ich die armen Burschen betrachtete,“ erzählt Stanley, „wie sie ermattet sich weiter schleppten, schien es mir nur einiger Stunden zu bedürfen, um ihr Schicksal zu besiegeln. Noch einen, vielleicht zwei Tage, dann würde das Leben entschwinden. Wie sie mit den Augen das wilde Dickicht nach den rothen Beeren des Phrynium, den hochrothen länglichen herben Früchten des Amomum durchsuchten! Wie sie sich auf die faden Bohnen des Waldes stürzten und nach seinen Schätzen von Schwämmen stierten! Kurz, in dieser schweren Noth, in welcher wir uns befanden, wurde nichts zurückgewiesen, außer Blättern und Holz.“

Freudentage waren es, wenn die Fouragiere hier oder dort verlassene Hütten entdeckten und in ihnen etwas Vorrath gefunden wurde. Ein paar Bananen oder Tassen Mais für den Mann – das bedeutete den Aufschub des Todes. Zu Kilonga Longa waren einige Boten vorausgesandt worden; jetzt mußte auch das Boot zurückgelassen werden unter Obhut Uledis, des kühnen Steuermanns Stanleys auf dessen Kongofahrt durch den dunklen Welttheil. Langsam rückte Stanley vorwärts, der Weg durch das Dickicht führte jetzt bergan und die Ermatteten mußten mit klopfendem Herzen steile Hänge ersteigen, sich fortwährend Bahn hauend. „O, es war ein trauriger, ein unaussprechlich trauriger Anblick, so viele Männer blindlings durch den endlosen Wald sich arbeiten zu sehen, einem Weißen folgend, dessen Ziel niemand kannte und von dem die meisten glaubten, daß er es selbst nicht wüßte. Sie befanden sich schon jetzt in einer wirklichen Hölle des Hungers. Auch mein armer Esel, den ich aus Sansibar mitgebracht hatte, zeigte Symptome, daß es mit ihm zu Ende gehe. Seit dem 26. Juni jeden Tag Arum und Amomum waren keine passende Nahrung für einen zierlichen Esel aus Sansibar, und ich erschoß ihn deshalb, um seinem Elend ein Ende zu machen. Das Fleisch wurde so sorgfältig getheilt, als wenn es das kostbarste Wildpret gewesen wäre, da die wilde, halbverhungerte Menge der Disciplin zu trotzen drohte. Als das Fleisch in unparteiischer Weise vertheilt worden war, entstand eine Prügelei wegen des Fells. Die Knochen wurden ergriffen und zerschlagen, die Hufe stundenlang gekocht, und von meinem treuen Thier blieb nichts übrig als das vergossene Blut und die Haare; eine Schar Hyänen hätten nicht gründlicher mit demselben aufräumen können.“

Die fünf Tagemärsche waren längst vorüber und von den Manjema keine Spur zu sehen. Endlich am 16. Oktober brachen die Pioniere durch ein Dickicht von Amomum und stießen auf eine Straße. Und siehe da, an jedem Baum war das besondere Zeichen der Manjema, eine Entdeckung, welche von der Spitze der Kolonne bis zum letzten Mann der Nachhut von allen wiederholt und mit frohlockendem Jubel aufgenommen wurde. Noch eine Nacht im Walde, dann begegnete man den Bewohnern der Niederlassung, und zwischen schönstehenden Feldern mit Mais, Reis, süßen Kartoffeln und Bohnen rückten die Hungernden in Kilonga Longas Lager Ipoto ein.

Anfangs wurde die Karawane Stanleys freundlich empfangen. „Für uns selbst,“ schreibt er, „erhielten wir drei Ziegen und zwölf Körbe Mais, bei deren Vertheilung jeder Mann sechs Kolben erhielt. Sie dienten uns zu zwei Mahlzeiten, nach denen viele wie ich sich neu belebt und erfrischt gefühlt haben müssen. In den ersten Tagen unseres Aufenthalts in Ipoto litten wir beträchtlich an Mattigkeit. Die Natur giebt uns entweder Hunger und nichts zu essen oder bereitet uns ein Fest und beraubt uns jeglichen Appetits. An diesen zwei Tagen hatten wir reichlich Reis und Pilau sowie geschmortes Ziegenfleisch gegessen und infolgedessen begannen wir an allerlei Beschwerden zu leiden. Die Kauwerkzeuge hatten ihre Funktion vergessen, die Verdauungsorgane wollten die Leckerbissen nicht annehmen und schienen in Unordnung zu sein.“

Die Freundlichkeit der Manjema wurde jedoch abgekühlt, als sie bemerkten, daß Stanley nicht die von ihnen gewünschten Stoffe und Perlen besaß, da diese zum Theil im Lager bei Kapitän Nelson zurückgeblieben, zum Theil auf dem Marsche verloren gegangen waren. Sie verkauften die Lebensmittel immer theurer,


  1. Die Manjema bewohnen das Land östlich von Nyangwé am oberen Kongo oder dem Lualaba. Von den Arabern unterworfen, bilden sie jetzt die Helfershelfer derselben bei der Verwüstung anderer Gebiete in Innerafrika.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_431.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)