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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Die Worte kamen mühsam, abgebrochen von den Lippen, die bereits ihren Dienst zu versagen schienen, aber sie ließen doch keinen Zweifel über die Bedeutung dieses Grußes. Eugen war aufgefahren, als er den Namen seiner Schwester hörte, und beugte sich jetzt über den sterbenden. Dieser sah nach den Bruder Adelheids, er erkannte die Züge, die den ihren so ähnlich waren, und wieder flog jenes Lächeln über sein Antlitz. Dann legte er ruhig und matt das blonde Haupt an die Brust seines alten „Waldgeistes“, und die schönen sonnigen Augen schlossen sich für immer.

Es war ein kurzer, schmerzloser Todeskampf, fast ein Entschlummern. Stadinger regte sich nicht, gab keinen Laut von sich, denn er wußte, daß das seinem jungen Herrn wehethun würde, den er als Kind auf den Armen getragen hatte und der nun in seinen Armen den letzten Athemzug that. Als es aber vorbei war, da brach auch die Fassung des Alten zusammen, er warf sich verzweiflungsvoll über den Todten und weinte wie ein Kind.




Auch drüben, jenseit der Bergpässe, leuchtete die klare, helle Wintersonne dem neuen Erfolge, den die siegreichen deutschen Truppen errungen hatten. Die Verhandlungen mit dem Kommandanten von R. waren zum Abschluß gebracht, die Festung übergeben. Soeben zog die kriegsgefangene Besatzung ab, während ein Theil der Sieger bereits eingerückt war.

Auf dem Hauptplatze der tiefer gelegenen Stadt hielt General Falkenried mit seinem Stabe, gleichfalls im Begriff, nach der Festung aufzubrechen. In dem Sonnenschein sah man die Helme und Gewehre der Mannschaften blitzen, die den Weg zur Citadelle hinaufzogen und denen immer neue Abtheilungen folgten. Falkenried hatte noch verschiedene Befehle ertheilt, jetzt setzte er sich an die Spitze seiner Offiziere und gab das Zeichen zum Aufbruch.

Da kam von der Hauptstraße her in rasendem Galopp ein Reiter angejagt, das edle Thier, das er ritt, war mit Schweiß und Schaum bedeckt und die Weichen bluteten von den scharfen Sporen, die es immer wieder angestachelt hatten, wenn ihm die Kraft zu versagen drohte. Aber auch das Gesicht des Reiters war entstellt von dem Blute, das unter dem um die Stirn gewundenen Tuch niederrieselte. Wie vom Sturm getragen flog er heran, so daß alles aus seinem Wege stob, erreichte den Platz, und sprengte mitten durch die Offiziere auf den General zu.

Aber wenige Schritte vor dem Ziele erlag die Kraft des Thieres, es stürzte zusammen. Doch in demselben Augenblick sprang der Reiter auch aus dem Sattel und eilte stürmisch auf den Oberbefehlshaber zu.

„Vom kommandirenden General!“

Falkenried zuckte zusammen beim ersten Worte, er hatte das vom Blute entstellte Antlitz nicht erkannt, er sah nur, daß der Mann, der so auf Tod und Leben daherjagte, eine dringende Botschaft bringen mußte, erst beim Klange dieser Stimme blitzte eine Ahnung der Wahrheit in ihm auf.

Hartmut schwankte und legte einen Augenblick die Hand an die Stirn – es schien, als wollte er wie sein Roß zusammenstürzen, aber er raffte sich gewaltsam wieder auf.

„Der General läßt warnen – es wird Verrath geplant, die Festung fliegt in die Luft, sobald die Besatzung abgezogen ist – hier ist die Depesche!“

Er riß ein Papier hervor und reichte es Falkenried. Die Offiziere waren aufgefahren bei der entsetzlichen Nachricht und umdrängten ihren Befehlshaber, als erwarteten sie von ihm die Bestätigung des Unglaublichen, aber sie hatten einen seltsamen Anblick. Ihr General, dessen eiserne Ruhe sie alle kannten, der nie die Fassung verlor, selbst wenn das Unerhörteste hereinbrechen mochte, er war todtenbleich geworden und starrte den Redenden an, als sei ein Gespenst vor ihm aus dem Boden emporgestiegen, während er das Papier noch uneröffnet in der Hand hielt.

„Herr General – die Depesche!“ mahnte halblaut einer der Adjutanten, der den Vorgang so wenig begriff wie die anderen. Aber das war genug, um Falkenried zur Besinnung zu bringen. Er riß die Depesche auf und durchflog sie, und jetzt war er wieder der Soldat, der nichts kannte als seine Pflicht.

Mit lauter, fester Stimme gab er seine Befehle, die Offiziere sprengten davon, Kommandorufe und Signale wurden in allen Richtungen laut, und wenige Minuten später sah man bereits, wie die nach der Festung hinaufziehende Abtheilung zum Stillstand kam, während die abrückende Besatzung ebenso plötzlich Halt machte. Jetzt erscholl auch droben auf der Citadelle das Alarmzeichen. Weder Freund noch Feind wußte, was das bedeuten sollte, es sah ja aus, als wollte man den eben erst eroberten Platz sofort wieder räumen. aber die Befehle wurden mit gewohnter Schnelligkeit und Pünklichkeit ausgeführt, die Bewegungen vollzogen sich trotz der Eile in vollster Ruhe, und die Truppenmassen wandten sich wieder nach der Stadt zurück.

Falkenried hielt noch auf dem Platze, Befehle ertheilend, Meldungen empfangend und mit dem Blick alles überwachend und leitend. Aber er fand doch eine Minute Zeit, sich zu seinem Sohne zu wenden, dem er bis dahin noch kein Zeichen des Erkennens gegeben hatte.

„Du blutest – laß Dich verbinden!“ sagte er.

Hartmut schüttelte heftig den Kopf.

„Später, erst muß ich den Rückzug, die Rettung sehen.“

Die furchtbare Erregung hielt ihn in der That aufrecht, er schwankte nicht mehr, sondern folgte mit fieberhafter Spannung jeder Bewegung der Truppen. Falkenried blickte ihn an, dann fragte er: „Auf welchem Wege kamst Du?“

„Ueber die Bergpässe.“

„Ueber die Pässe?“ rief der General, „Dort steht ja der Feind!“

„Ja – dort steht er.“

„Und Du kamst doch auf diesem Wege?“

„Ich mußte, sonst wäre die Nachricht nicht rechtzeitig hier gewesen. Ich bin gestern abend erst fortgeritten.“

„Das ist ja ein Heldenstück ohnegleichen! Mann, wie haben Sie das zustande gebracht?“ rief einer der höheren Offiziere, der soeben eine Meldung gebracht hatte und die Worte hörte.

Hartmut schwieg, er hob nur langsam den Blick zu seinem Vater empor. Jetzt scheute er nicht mehr diese Augen, die er so lange gefürchtet hatte, und was er darin las, sagte ihm, daß er auch hier freigesprochen war.

Aber selbst die äußerste Willenskraft hat ihre Grenze, und diese war jetzt erreicht bei dem Manne, der fast Uebermenschliches geleistet hatte. Das Antlitz des Vaters war das letzte, was er sah, dann legte es sich wie ein blutiger Schleier vor seine Augen, er fühlte es wieder heiß und feucht über seine Stirn rinnen, und dann wurde es Nacht um ihn und er sank zu Boden.

Da ertönte ein Schlag, unter dessen Gewalt die ganze Stadt erbebte und erzitterte. Die Citadelle, deren Umrisse sich eben noch so scharf und klar von dem blauen Himmel abgehoben hatten, wurde urplötzlich zu einem Krater, der Gluth und Verderben ausspie. In den berstenden Mauern dort oben schien sich die ganze Hölle aufzuthun, ein Regen von Stein- und Felstrümmern erhob sich hoch in die Luft, um dann zerschmetternd niederzusinken, und alsbald züngelte und lohte es überall auf in dem riesigen Trümmerhaufen und aus Rauch und Qualm loderte eine mächtige Feuersäule zum Himmel empor – ein grauenhaftes Flammenzeichen!

Die Warnung war noch in letzter Stunde gekommen. Es hatte trotzalledem Opfer gekostet, denn was noch im unmittelbaren Bereich der Citadelle sich befand, das war zerschmettert oder schwer verwundet, aber im Vergleich mit dem unabsehbaren Unglück, das ohne jene Warnung geschehen wäre, konnten die Verluste für gering gelten. Der General mit seinen Offizieren und fast allen seinen Truppen war gerettet.

Falkenried hatte sofort mit gewohnter Umsicht und Thatkraft alle Maßregeln getroffen, welche die entsetzliche Katastrophe erheischte. Er war überall, und seinem Eingreifen, seinem Beispiel gelang es auch, den in vollster Siegesfreude von dem Verrath überraschten Mannschaften die Ruhe wiederzugeben. Erst als der Befehlshaber seine Pflicht gethan hatte, trat der Vater in seine Rechte.

In einem der nahegelegenen Häuser, wohin man ihn getragen hatte, als er zu Boden sank, lag Hartmut noch immer besinnungslos. Er sah und hörte den Vater nicht, der mit einem der Aerzte an seinem Lager stand, die Betäubung hielt ihn schwer und tief umfangen. Falkenried blickte eine Weile stumm nieder auf das bleiche Antlitz mit den geschlossenen Augen, dann wandte er sich an den Arzt.

„Sie halten also die Wunde nicht für tödlich?“

Der Arzt zuckte mit bekümmerter Miene die Achseln.

„Die Wunde selbst nicht, aber die furchtbare Ueberanstrengung bei diesem Ritt auf Tod und Leben, der starke Blutverlust, die eisige Kälte der Nacht – ich fürchte, Herr General, Sie müssen sich auf alles gefaßt machen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_438.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2020)