Seite:Die Gartenlaube (1890) 450.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

und begrüßte auch täglich die Mutter beim Frühstück mit der wenig schmeichelhaften Anrede:

„Du alte Tanne im dunkeln Kleid,
Du solltest dich schämen zur Frühlingszeit!“

Der große Tag des „Mädelexamens“, wie die Brüder sich ausdrückten mit männlicher Verachtung des niederen Standpunkts, auf dem die Gelehrsamkeit der höhern Töchterschule in ihren Augen stand, war herangekommen. Die jungen Damen legten eine betrübend aufs Aeußerliche gerichtete Gesinnung an den Tag, indem beide viel aufgeregter darüber waren, ob die blauen Kleider gut paßten und die Schleifen an den Zöpfen auch die richtige Abschattirung dazu zeigten, als darüber, ob die Punischen Kriege und die amerikanischen Städte – die beiden Bildungszweige, über die kein Schulmädchen von der letzten bis zur ersten Klasse hinauskommt! – auch in den Köpfen fest säßen.

Die Mutter war mißgestimmt, da das Examen die Rücksichtslosigkeit beging, nachmittags um drei Uhr stattzufinden, zu einer Tageszeit, in welcher der normale Mensch sich mit Bewußtsein und Genuß dem Verdauungsgeschäfte anheimgiebt und zu nichts weiter Neigung hat, als sich aufs Sofa zu legen und bei einem Schmöker die Welt und ihre Sorgen auf eine halbe Stunde zu verabschieden.

Statt dessen mußte die Hausfrau unmittelbar nach dem letzten Bissen sich mit Hut und Tuch bekeiden und in wahrer Bratenhitze mit ihren fieberhaft aufgeregten Töchtern nach dem Schulhause wandern, wo bereits eine Schar hüpfender, schnatternder, langzöpfiger Mädchen vor der Hausthür stand und mit jenem prüfenden Blick die gegenseitige Toilette musterte, ohne den auch erwachsenere Damen schwer aneinander vorbeikommen können!

Oben angelangt, fand die Mutter zu ihrer Empörung und Beschämung, daß sie von der zum Zuhören eingeladenen Elternschaft „die erste“ war, ein Zustand, der merkwürdigerweise für jeden Menschen das Gefühl einer gewissen Blamage in sich schließt, wogegen „der letzte“ sich immer einigerniaßen vornehm vorkommt, – ein seelischer Vorgang, der ebenso räthselhaft als unbestreitbar ist!

Ein Tisch, mit Handarbeiten bedeckt, zeigte zur Befriedigung unserer Hausfrau, daß die dem weiblichen Geschlecht angemessenen Beschäftigungen noch nicht im Wuste der Gelehrsamkeit erstickt waren, und ihre Freude wäre noch größer gewesen, wenn ihr nicht Anna ein graubraunes, räthselhaftes Gewebe mit schönem Selbstgefühl als „mein Strumpf“ vorgestellt und sogar sich nicht entblödet hätte, eine Karte mit dem auf diese Weise recht gebrandmarkten Familiennamen an dem furchtbaren Werk zu befestigen. Als Erstgekommene wurde die Mutter auf einen der allgemeinen Aufmerksamkeit ausgesetzten Platz in dem etwas dumpfen, heißen Raum genöthigt und saß daselbst wohl zwanzig Minuten lang regungslos und schmorend einer Reihe leerer Bänke gegenüber, indem sie sich geradezu tödlich langweilte und sich beständig innerlich erbittert ausrechnete, wie gut und reichlich sie in dieser Zeit hätte Siesta halten können!

Endlich gab der Klingelton das Zeichen zum Beginn der „Vorstellung“, die jungen Damen erschienen paarweis, verlegen lächelnd, und nahmen ihre Plätze ein. Die beiden Schwestern unserer Familie Langer gehörten zum Glück derselben Klasse an und waren die zunächst Examinirten.

Die Mutter hatte nun den Hochgenuß, das Gedicht von der „alten Tanne“ mit wenigstens der Abwechselung wieder zu hören, daß Elli, von Schüchternheit übermannt, gänzlich unhörbar flüsterte und die Versammlung in lebhafter Spannung darüber erhielt, ob sie die Schillersche „Bürgschaft“ oder „Gott grüß' Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen?“ deklamire – ein Zweifel, der auch noch ungelöst blieb, als Elli mit einem Tanzstundenknix von etwas windschiefer Richtung der Oeffentlichkeit für heut Lebewohl gesagt hatte.

Das nun folgende Examen in der Erdkunde war für die Mutter ebenfalls kein glücklicher Zustand. Der drohende Zeigefinger des lehrenden Fräuleins kehrte von den Mägen ihrer Töchter, auf die er bei jeder Frage gerichtet war, leer und unverrichteter Sache zurück, ja, nicht genug damit, – Anna suchte sogar zweimal zu zeigen, daß sie Bescheid wisse, und als sie auf diese Andeutungen hin mit einem ermutigenden „Nun, Aennchen?“ zum Verwerten ihrer Kenntnisse aufgefordert wurde, schwieg sie gänzlich und ließ es ewig unaufgeklärt, warum sie sich so löwenkühn der furchtbaren Möglichkeit des Gefragtwerdens ausgesetzt habe!

Das einzige Mal, wo Frau Langer die Stimme einer ihrer Töchter vernahm, war, als Elli auf die bescheidene Anfrage: „Welcher bekannte Held war in Küstrin gefangen?“ mit sanfter Sicherheit die überraschende Antwort gab: „Columbus!“, ein geringfügiger Irrthum, den das gewandte Fräulein mit einem schnellen und unbefangenen „ganz recht – Friedrich der Große!“ in einen Treffer erster Güte umzuwandeln wußte.

Die Mutter, auf ihrem bevorzugten Platz, wünschte fortgesetzt, daß sie die Erde verschlänge, da sie die Kritik sämmtlicher Bekannten fürchtete, – eine Besorgniß, die darum recht unbegründet war, weil alle Eltern nur auf ihre eigenen Paulas, Emmys oder Elsen achteten und hinterher beim besten Willen nichts darüber hätten berichten können, was die Töchter anderer Leute gewußt oder in diesem Fall nicht gewußt hätten!

Die Prüfung ging solchergestalt ruhmlos für die Familie Langer zu Ende, und als die Mutter mit ihren beiden jungen Damen den Heimweg antrat, that sie als einzige Kritik den vernichtenden Ausspruch: „Wie gut, daß der Papa nicht mit war!“ eine Wahrheit, der sich der betreffende Papa nachher aus voller Seele anschloß, indem er auf den Bericht der Mutter nach etwas roher Männerart bemerkte: „Es ist mir übrigens ganz einerlei, Auguste, ob die Mädel etwas lernen – wenn sie eine gute Suppe kochen können, so mögen sie meinetwegen sagen: ‚Der Cid ist in Preußisch-Eylau geboren und in Myslowitz erzogen worden‘ – darauf kommt es nicht an!“

Die Prüfung der Söhne hätte naturgemäß ernster genommen werden müssen, doch da sich dieselbe für die in Frage kommenden Klassen nur auf ein Deklamatorium beschränkte und die entscheidende Thatsache, daß sowohl Paul wie Karl – letzterer allerdings als neunundzwanzigster unter einunddreißig Schülern! – versetzt seien, bereits auf geheimnißvollem Wege durchgesickert war, so konnte man diesem großen Akt mit heiterer Ruhe entgegensehen.

Die Kleiderfrage der namenlos glatt gebürsteten jungen Männer war ja auch viel leichter zu entscheiden! Paul wüthete allerdings im letzten Augenblick durch das ganze Haus, um alle Schubfächer und sogar die Speisekammer aufzureißen und einen dunkelblauen Shlips zu suchen, den er verlegt hatte, und Karl vergoß ein paar stille, aber bittere Zähren über einen Kittel, dessen Schnitt ihm die schimpfliche Bezeichnung „Mädeljacke“ eingetragen hatte. Aber im großen und ganzen wurde die Sache doch weniger wichtig behandelt, und die Eltern – bei den Jungen gingen beide Eltern mit! – begaben sich in gehobener Stimmung nach dem Turnsaal des Gymnasiums, wo das Deklamatorium stattzufinden hatte.

Die Sexta eröffnete dasselbe mit ihren rührenden Piepsstimmen und dem Gesang: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus“ – eine Zeitverwechselung, welche in der Glut des Augustmorgens allerdings nicht zu streng genommen werden durfte!

Dann betrat ein beseligter Abiturient, der schon wußte, daß ihm die Marteranstalt der Schule nichts mehr anhaben konnte, freien Blicks die erhöhte Rednerbühne und donnerte eine vernichtende Verurtheilung der spartanischen Einseitigkeit und ein ebenso begeistertes Loblied auf die perikleische Hochbildung, die auch dies Gymnasium durchwehe, in den Zuhörerkreis, zugleich die Versicherung abgebend, daß die Studentenzeit vom ersten Semester an für ihn und seine Genossen nur eine Gelegenheit zu eisernem Fleiß und unaufhörlichem Arbeiten sein werde – ein kühner Ausspruch, der von den Vätern mit säuerlichem Lächeln und mäßig überzeugt angehört wurde.

Als erste Frucht der perikleischen Bildung trat nun unser Paul mit der wochenlang eingeübten Dichtung von der Grille und der Ameise auf die Bretter, die ihm heute die Welt bedeuteten, und fing auch ganz frisch an, bis etwa zur Hälfte, wo das ruchlose Gedächtniß ihm plötzlich mitten durchzuknicken schien, er bis unter die Haarwurzeln erröthete und einen wilden, flehenden Blick in die Menge warf.

Ein freundlicher Mitschüler überlieferte ihm übrigens im brüllenden Flüsterton das verhängnißvolle Fehlwort, und somit durfte der Kunstgenuß nun ohne weitere Unterbrechung zu Ende gehen.

Die Mutter konnte sich aber, ehe Paul mit fürstlichem Anstand von seinem erhöhten Standpunkt herabkroch, eines leisen, mißbilligenden Kopfschüttelns an seine Adresse nicht erwehren, da ihr die beständigen häuslichen Uebungen der letzten Wochen angesichts dieses Unfalls als recht überflüssig erscheinen mußten.

Karl war einer ähnlichen Probe überhoben. Da er nur, wie er zu Hause triumphirend erzählte, „solo mit sechzig andern“ ein Lied vortrug, so war nicht anzunehmen, daß er so betrübend falsch singen werde, um sämmtliche sechzig Solisten zu übertönen,

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 450. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_450.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)