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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Freien leicht beschäftigt werden. Als drohender Feind des häuslichen Friedens stellte sich nur ein Einwohner des benachbarten Gasthofs zum „Goldenen Stern“ dar. Dieser Mann, ein wohlwollender Brite, der wegen seines behäbigen blühenden Aeußeren von den Jungen ungalant, aber bezeichnend „das Beefsteak“ genannt wurde, hatte ein Ruderboot auf die Dauer gepachtet und sehnte sich beständig nach einem Opfer, das sich von ihm in den See hinaus rudern ließe.

Nachdem Karl und Paul dies einmal erfahren hatten - den Mädchen war Rudern in handelnder und leidender Form als etwas Unweibliches ein für allemal streng untersagt worden! - strebten ihre Seelen nur noch nach diesem lebensgefährlichen Vergnügen und sie schwänzelten und wedelten so lange mit sprechenden Blicken um den seefahrenden Gentleman herum, bis dieser ihre stumme Bitte verstand und fortan täglich mehrmals durch die Frage. „Uollen Ihre Knaben mit mir wudern?" die Mutter in die unangenehmste Lage brachte, die wie Scylla und Charybdis keinen Ausweg zuließ!

Sagte sie ja, so beraubte sie sich auf zwei Stunden jedes Seelenfriedens, da sie während dieser Zeit ihre wilden, unbändigen Söhne unter der Obhut eines ganz Fremden auf den Wogen schaukelnd wußte und bei jedem Wölkchen am Himmel schon innerlich wiederhalte:

„Es rast der See und will sein Opfer haben!"

Sagte sie nein, so saßen Paul und Karl als gemißhandeltes Eigentum einer überängstlichen Mutter zornig und mürrisch in der Stube, wiesen jede andere vorgeschlagene Zerstreuung mit dem überraschenden Vergleich zurück, sie sei „langweilig wie die Pest!" - und verwünschten die Ferien, die Schweiz und die ganze Welt in längeren Selbstgesprächen.

Frau Langer zählte demgemäß schon die Tage, bis das "Beefsteak" die heimischen Gestade wieder aufsuchen würde.

Die Mädchen waren leichter zu beschäftigen. Sie errichteten Kaufläden im Garten und hatten überdies eine tief zu beklagende junge Katze entdeckt, mit der sie Zeit und Weile vergaßen und die sie in liebendem Wettstreit um ihren Besitz schon zu über zwei Drittel ihrer natürlichen Länge ausgezerrt hatten.

Soweit ging alles gut und schön - da überzog sich eines Morgens der Himmel und traf die unverkennbarsten Anstalten, sich auf ein dauerhaftes Regenwetter einzurichten. Die Berge verschwanden langsam, aber sicher hinter dicken Nebelschleiern, der Dorfweg weichte zu einer braunen, zähen Crême auf, die in liebender Anhänglichkeit sich jeder Schuhsohle anheftete, und die einzige Staffage der Landschaft waren Regenschirme.

Nun begann für die Mutter eine Zeit, die wahrlich an Schrecken nichts zu wünschen übrig ließ! Ihre Unterkunft bestand aus zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer und einem Badenraum. In einem Schlafzimmer schlief zwei Drittel des Tages das kleine Kind, welches bei jedem lauten Geräusch jammernd emporzufahren und dann ungefähr anderthalb Stunden zu schreien pflegte. Die vier großen Kinder mußten daher leise und doch heiter beschäftigt werden, eine Aufgabe, die für die Hausfrau recht erholend und stärkend zu nennen war.

Die beiden ersten Tage hatten die Kinder ohne Pause den Regen beobachtet und mit der ganz unbegründeten Behauptung. „Es läßt nach!" sich in jedem unbewachten Augenblick ins Freie begeben, Regenfußtapfen und Erdspuren mit ins Haus bringend, welche die Köchin, drohend mit einem Scheuerlumpen hinter ihnen herstürzend, wieder zu verwischen bestrebt war.

Als aber das Wetter mit vollster Entschiedenheit auf seinem Starrsinn beharrte und die Kinder sich „geben" mußten, traten wahrhaft unerträgliche Zustände ein. Eine furchtbare Episode bildete ein altes, tief verstimmtes Pianino, auf dem einen ganzen Tag über abwechselnd eins der Vier in Tönen jubelte und klagte - in angenehmer Abstufung von dem Heraussuchen des unsterblichen „Kommt ein Vogel geflogen" bis zum fröhlichen Aufklatschen mit beiden Händen zugleich, oder dem melodischen Hinaufgleiten eines Fingers vom tiefsten Baßton bis zum quiekenden, klappernden Sopran der höchsten Raten. Das war ganz wunderhübsch und, wie man sich denken kann, für die Mutter eine wahre Erquickung, um so mehr, da sie beständig durch: „Mutter, hör' doch!" zu ungeteilter Aufmerksamkeit und Hingabe an den Kunstgenuß ermuntert wurde.

Elli und Anna hatten zum Ueberfluß in diesen schrecklichen Tagen nach eine Freundin, welche zuerst unter dem allgemeinen Namen „die Polin" gegangen war und den unerklärten Zauber alles Ausländischen auf die Kindergemüther ausgeübt hatte. Beide Mädchen verlangten tagelang mit stürmischer Leidenschaft nach der "Polin", die nicht ordentlich Deutsch konnte und einen unaussprechlich schönen Namen hatte.

Durch diplomatische Kunstgriffe und Bemühungen gelang es endlich der Mutter, den Umgang mit der Polin anzubahnen, die sich leider aber als ein „Blender“ erwies und nach wenigen Tagen von den Freundinnen ebenso heftig verabscheut als vorher geliebt wurde.

Die Polin hatte die Eigentümlichkeit, alles übelzunehmen und vom gemeinsamen Spiele etwa jede Viertelstunde weinend wegzurennen - leider aber immer nach zehn Minuten wiederzukommen und großmüthig ihre Verzeihung zu verkünden. Die Polenmutter, welche glückselig sein mochte, in diesen Regentagen eine Zuflucht für ihre beschäftigungslose Sascha zu finden, lagerte diese gänzlich auf Langers ab, so daß unsere arme Hausfrau die Travestie der Schillerschen Glocke ungefähr auf sich anwenden konnte:

„Sie zählt die Häupter ihrer Lieben, und sieh, es sind statt sechse - sieben!"

Während die Mutter entsagungsvoll am Fenster saß, Strümpfe stopfte, in den Regen sah und sich fragte, wie sie so wahnwitzig habe handeln können, ihre bequeme angenehme Stadtwohnung für schweres Geld mit diesem traurigen Aufenthalt zu vertauschen, wurde sie in ihrem Nachdenken beständig durch Meldungen der jungen Damen unterbrachen: "Die Sascha kratzt mich, die Sascha will nach Hause gehen, die Sascha läßt mich nicht mitspielen," wobei Frau Langer nach den ungerechten Forderungen der Gastlichkeit immer nach der entsetzlichen Polin zum Schein Recht geben mußte, während ihre ganze Seele danach lechzte, sie durch ein paar Ohrfeigen unheilbar in ihrem Nationalstolz zu verwunden und auf Nimmerwiederkehr nach Hause zu jagen.

Die Jungen fühlten sich auch ziemlich unglücklich. Zuerst hatten sie im Besitz zweier Gasballons, einem Abschiedsgeschenke des „Beefsteaks", die Ungunst des Wetters vergessen und die bunten Bälle beständig zum Fenster hinaussteigen lassen. Da durchschnitt plötzlich ein Jammergeschrei Karls die Lüfte: der Faden, der seinen blauen Ballon hielt, war der leitenden Hand entglitten, und der Treulose stieg hoch empor und entschwand den Blicken seines heulenden Besitzers, wahrscheinlich des Landaufenthaltes überdrüssig, was ihm Frau Langer von ganzem Herzen nachfühlen kannte.

Karls Thränen vermischten sich infolge dieses betrübenden Ereignisses zwei Tage lang mit dem Regen draußen, und er saß, mit bis zur Unkenntlichkeit verschwollenen Augen, am Fenster und sah dem entflohenen Juwel nach, als könnten seine Blicke es zurückholen. Paul raste währenddem in der etwas schadenfrohen Empfindung „ich habe meinen noch!" mit seinem roten Ballon durch die Zimmer und hatte die schöne Gewißheit, daß die niedrige Stubendecke etwaigen Fluggelüsten desselben erfolgreich „Halt!" gebieten würde.

Aber noch am zweiten Tage fing der rothe Ballon auf räthselhafte Weise an, sich zu verkleinern, und schrumpfte vor den Augen des entsetzten Paul immer mehr zusammen, bis er schließlich aus seiner strahlenden, ausgeblähten Herrlichkeit sich in ein schwarzrotes, faltiges Beutelchen verwandelt hatte, dessen altersschwaches Aussehen jeden Versuch, es zum Fliegen zu ermuntern, als unvernünftige Grausamkeit erscheinen. ließ.

Wohl gelang es der Mutter, mit Ausbietung aller Lungenkräfte, dem zusammengeschrumpften Ballon wieder etwas von seiner früheren Fülle zu geben, aber seine Flugfähigkeit war dahin und blieb es, trotzdem die Mutter mit rührender Geduld sich immer neuen Wiederherstellungsversuchen unterzog.

Dies bildete ziemlich die einzige Zerstreuung und Abwechselung für die Hausfrau während ihres Sommeraufenthaltes, indessen der Gatte mit leichtem Gepäck und frohem Sinn eine Streiftour durch die Welt unternahm und jubelnde Karten auf fröhlicher Reisegesellschaft mit herzlichem Gruß an Frau und Kind entsendete.

Man wird es unter diesen Umständen der Hausfrau nicht allzusehr verargen dürfen, wenn sie, als 14 Tage in dieser Art herumgegangen waren, sich mit allen Fibern ihrer Seele nach einem Vorwand zu sehnen begann, um in die Kultur, in die Stadt, mit einem Wort in all das zurückzukehren, was sie so freudig und erwartungsvoll verlassen hatte. Nach drei Wochen an dem regengepeitschten See aufzuhalten, schielt ihr fast

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 467. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_467.jpg&oldid=- (Version vom 10.11.2022)