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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Noch einen?“ fragte sie nachher, aber er schüttelte ablehnend den Kopf.

„Später vielleicht, wenn ich wiederkomme, mir meinen Koffer abzuholen, denn ich möchte Sie bitten, ihn mir bis zum Abend aufzubewahren, Frau Wirthin.“

Die kleinen Augen des dicken Weibes musterten ihn nicht ohne Mißtrauen.

„Können Sie mir auch versprechen, daß wir keine Schererei davon haben werden? Da hängen sie einem einen Prozeß wegen Hehlerei an den Hals und schleppen einen vors Kriminal, man weiß nicht wie!“

„Sie dürfen ohne Sorge sein, Frau Wirthin! Ich habe heute morgen meine Wohnung verlassen und muß mir eine andere suchen. Soll ich dabei meine Habseligkeiten beständig mit mir herumschleppen?“

„Na, dann schieben Sie das Ding nur hier hinter den Tisch. Es wird’s ja wohl keiner wegnehmen.“

Hudetz wollte sich für ihre Gefälligkeit bedanken; aber er kam nicht mehr dazu, denn über die steile Kellertreppe herab polterten mit wüstem Lärm zwei Männer, die trotz der frühen Stunde augenscheinlich bereits ziemlich stark betrunken waren. Sie hielten sich an den Schultern umfaßt, und während der eine mit voller Lungenkraft, aber mit heiserer, mißtönender Stimme ein Soldatenlied brüllte, schrie der andere selbstbewußt und befehlend in den Keller hinein: „Wir feiern heute unsern Geburtstag, und wer nicht mitfeiert, der ist ein Lump – ein Lump, sage ich! – Heda, schöne Frau! – Cognac aufgefahren, aber vom feinsten! – Und für die ganze Bande! Ich bezahle alles – wozu hätten wir denn in der Lotterie gewonnen – nicht wahr, Gottlieb?“

„Ja, wozu – hätten wir – denn – in der Lotterie gewonnen!“ stammelte der andere, der kaum noch auf den Füßen stehen konnte. „Halt – dageblieben! – Wer da – desertirt, der – der kommt in den Ka – Kasten!“

Die letzten Worte galten dem unglücklichen Hudetz, der einen Versuch gemacht hatte, mit seinem Päckchen an den beiden Trunkenbolden vorüber die Kellerthür zu gewinnen. Der freigebige Gewinner aber hatte ihn mit beiden Fäusten an den Schultern gepackt und drückte ihn gegen den Schänktisch, daß dem Wehrlosen fast der Athem verging.

„Lassen Sie doch den Mann los!“ bat die Wirthin, die eine gewisse Theilnahme für den Fremden mit den verhärmten, klugen Zügen zu empfinden schien. „Er hat Ihnen ja nichts zu Leide gethan.“

„Und wir thun ihm auch nichts!“ meinte der erste Sprecher.

„Aber er soll mit uns ein Glas auf unsere Gesundheit trinken – das können wir verlangen, nicht wahr, Gottlieb?“

„Ja, das können wir verlangen!“ bestätigte der andere mit schwerer Zunge. „Und wer uns nicht Bescheid thut, dem schlagen wir alle – alle Knochen entzwei!“

Dabei fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum, und seine kleinen, tückischen Augen bohrten sich in Hudetz’ blasses Gesicht. Ein Erschauern der Furcht und des Entsetzens lief diesem plötzlich über den Leib, denn nun erkannte er in dem Sprechenden jenen Strolch, welcher ihm vor einer Reihe von Wochen in der Friedrichstraße so drohend gegenübergetreten war. Und er ergab sich bereitwillig in alles, was man von ihm verlangte. Zweimal leerte er auf die Gesundheit der beiden Gesellen unter ihrem rohen Gelächter sein Cognacglas, und er würde vielleicht den Ausweg aus dem Keller nicht mehr gefunden haben, wenn die treuen Freunde nicht plötzlich ohne eigentliche Veranlassung in einen heftigen Streit miteinander gerathen wären und ihre Aufmerksamkeit infolgedessen von ihrem Opfer abgewendet hätten. Diese günstige Fügung benutzte Hudetz zur Flucht. Das verschnürte Päckchen fest an sich drückend, flog er die Treppe empor. Oben aber mußte er sich wohl eine Minute lang am Thürpfosten festhalten, weil sich alles in einem tollen Wirbeltanze vor seinen Augen drehte, und weil er die beängstigende Empfindung hatte, daß er zu Boden stürzen müßte, sobald er die Stütze fahren ließe.

Doch der heftige Schwindelanfall ging vorüber, und wenn auch mit unsicheren, schwankenden Schritten, so konnte Hudetz doch nach einer Weile die Straße hinabgehen, ohne geradezu die gefährliche Aufmerksamkeit der in hellen Haufen daherkommenden Schulkinder auf sich zu ziehen.

Trotzdem war er berauscht, wie er es nie zuvor gewesen war, mehr noch als an jenem verhängnißvollen Vormittag, da er die Wirkung des wundersamen Giftes zum ersten Male in seinem Gehirn und in seinen Nerven gespürt hatte. Und der Rausch war ihm nicht eine Wohlthat wie sonst, wo er in ihm Vergessen seiner verzweifelten Lage gesucht hatte. Statt der rosigen, hoffnungsfreudigen Stimmung, die ihm der feurige Tröster sonst wohl zu erwecken vermocht hatte, regte sich in seinem Innern heute ein dumpfer Groll – eine still glimmende Wuth, die vielleicht ein leiser Hauch zur verzehrenden Flamme emporlodern lassen konnte – ein unbestimmter, nagender Haß, dem es nur an Ziel und Richtung fehlte, um sich in Thaten umzusetzen.

Vor der Anschlagsäule an einer Straßenecke blieb er stehen, zwecklos und absichtslos nach der Art der Berauschten, lediglich weil er andere dort stehen sah, die den Inhalt eines grellrothen Zettels studirten. Die Polizeibehörde hatte eine Belohnung von dreihundert Mark ausgesetzt für die Ergreifung eines Raubmörders, auf den man seit Wochen vergebens fahndete. Obwohl ihm die Buchstaben ein wenig vor den Augen flimmerten, las Hudetz doch mit wachsender Aufmerksamkeit den Wortlaut der Bekanntmachung. Die Beschreibung des an einem alten Geldverleiher verübten Verbrechens ließ ihn trotz der grausigen Einzelheiten vollständig kalt; aber in seinem Herzen erwachte eine merkwürdige Theilnahme für den unbekannten Mörder, der ja vielleicht auch ein Gehetzter und Verfolgter gewesen war wie er selbst, ehe die Verzweiflung ihn zu dem Letzten, Aeußersten getrieben hatte. Er mochte sich wohl gleich ihm in den elendesten Wirthshäusern und Gasthöfen umhergetrieben haben, bis der letzte Pfennig seiner Barschaft verzehrt war, bis man ihn mit Fußtritten auf die Straße hinausgeworfen, ihn verhöhnt und mißhandelt hatte, obwohl er doch ein Mensch war wie die anderen und Hunger, Kälte, Schmerz empfand wie ein Mensch.

War es denn wirklich etwas so Ungeheuerliches, ein Mörder zu werden, wenn man einmal auf dieser letzten Stufe angekommen war, da, wo der Jammer anfängt, sich in Wahnsinn zu wandeln? Gab es nicht der überflüssigen Schmarotzer genug, die zu beseitigen viel eher ein Verdienst war als ein Verbrechen? Welchen Nutzen hatte denn die Menschheit zum Beispiel von diesem eleganten Modegecken, der da hart an seiner Seite stand, den goldenen Stockknopf an das spitze Kinn gedrückt und die matten, wässerigen Augen mit einem Ausdruck schlaffer Neugier auf das rothe Blatt geheftet? Hudetz konnte den brennenden Blick nicht mehr von den verlebten Zügen des Menschen wegwenden. Der fade, süßliche Fliederduft, der von dessen parfümirten Haaren und Kleidern ausging, verursachte ihm ein fast unerträgliches Unbehagen. Er haßte den Menschen um dieses widerwärtigen Duftes willen, und es zuckte ihm in den Fäusten wie von unwiderstehlichem Verlangen, ihn zu erwürgen.

Vielleicht regte sich in dem geschniegelten Herrn eine unbestimmte Ahnung von den fürchterlichen Gedanken, die in dem Hirn seines schäbigen, stier blickenden Nachbarn ihr Wesen trieben; vielleicht auch hatte der heiße Athem des ehemaligen Studenten seinen Hals gestreift; denn er wandte sich plötzlich kurz um, sah Hudetz mit einem scharfen Blick an und ging dann seines Weges, ohne das Plakat bis zu Ende zu lesen.

„Gut, daß er fort ist!“ murmelte der Geächtete, schwer athmend wie einer, der großer Gefahr entronnen ist, „gut, daß er gegangen ist, so lange es Zeit war!“

Andere Neugierige kamen und drängten ihn zur Seite. Da die polizeiliche Kundmachung seinem Gesichtskreis entrückt war, las er gedankenlos die Anzeigen der Theater und Vergnügungslokale.

Plötzlich aber rüttelte ein Name, auf den er da gestoßen war, alle seine Lebensgeister aus ihrem dämmernden Traumzustande auf.

„Schillertheater,“ wiederholte er halblaut für sich selbst, „heute: Kean oder Leidenschaft und Genie. Morgen und übermorgen: dieselbe Vorstellung. Sonntag: Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. Vorher: Die Geschwister, Schauspiel von Goethe. Marianne: Fräulein Marie von Brenckendorf als erstes Auftreten.“

Der Name „Marie von Brenckendorf“ war mit fetten, auffallenden Buchstaben gedruckt. Der Direktor versprach sich offenbar einige Anziehungskraft von demselben.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 478. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_478.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)