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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Und Du willst mir nicht einmal die schwache Hoffnung lassen, daß Du inzwischen noch anderen Sinnes werden könntest, willst mir nicht gestatten, morgen oder übermorgen wiederzukommen, um Deine letzte Meinung zu hören?“

„Nein! Es wäre nichts als die nutzlose Wiederholung einer peinlichen Scene, die uns beiden nur schmerzliche Eindrücke hinterlassen kann. Ich habe mit der Vergangenheit gebrochen, und ich möchte durch nichts und durch niemand mehr an diese Vergangenheit erinnert werden.“

„Ah!“ athmete Hudetz auf. „Nun muß er ja gehen!“

Aber der Unbekannte ging noch nicht, wenn er auch offenbar bis hart an die Thür getreten war. Nach einer sekundenlangen Pause sagte er:

„Ich ahnte freilich nicht, Marie, daß mein Anblick Dir so sehr verhaßt sei. Mußt Du diesen ehrlichen Warnungen nur darum einen so unbeugsamen Trotz entgegensetzen, weil sie aus meinem Munde kommen?“

Da klang es heftig wie aus einem schmerzgequälten Herzen, das nicht länger die Kraft der Selbstbeherrschung besitzt, zurück:

„Frage mich nicht, Lothar! Laß Dir genug sein an dem, was Du von mir gehört hast! Ich will nicht gezwungen sein, Dich für meinen Freund zu halten – ich will nicht – ich will nicht! – Glaube immer, daß ich Dich hasse! Wenn wir jetzt als Feinde scheiden, scheiden wir doch wohl für immer!“

„Ja, für immer, Marie! – Aber Freund oder Feind – ich werde handeln, wie meine Pflicht es mir gebietet.“

Die Thür knarrte und Hudetz hatte eben noch Zeit, sich in den dunkeln Winkel neben dem Schrank zu flüchten, denn ein breiter Strom hellen Tageslichtes fiel jetzt auf den Vorplatz heraus. Und inmitten dieses Lichtes, das Hudetz’ nach der langen Finsterniß geblendeten Augen wie überirdischer Glanz erschien, sah er die hohe, schlanke Gestalt seiner Madonna, das blonde Köpfchen tief gesenkt wie in bitterem Weh. Er sah, daß sie eine rasche Bewegung machte, als wollte sie den Davoneilenden halten, und daß sie dann plötzlich mit hörbarem Schluchzen das Gesicht in den Händen verbarg. Sein Athem stockte; etwas Eiskaltes rieselte ihm über den Rücken herab. Er hatte keinen Gedanken mehr, ein wildes Rauschen, Sausen und Klingen war vor seinen Ohren, und mit Anstrengung riß er die Augen auf, weil es sich plötzlich wie ein blutrother Schleier vor ihnen ausbreitete.

Eine dunkle, schattenhafte Gestalt ging mit festen, langsamen Schritten an seinem Versteck vorüber – das war er, ihr Feind, ihr Verfolger, ihr Peiniger – der Mann, den er haßte wie keinen sonst auf der Welt. Die Hände des Studenten ballten sich zu Fäusten, alle seine Muskeln strafften sich, und es überkam ihn ein Gefühl riesenhafter körperlicher Kraft.

„Tödte ihn!“ klang es ihm ins Ohr. „Tödte ihn!“ Und alles, was er jetzt mit Blitzesschnelligkeit that, schien viel weniger eine Bethätigung seines eigenen Willens zu sein, als der blinde Gehorsam gegen eine unbekannte, furchtbare Macht, welche schrankenlose Gewalt über seinen Geist und seinen Körper gewonnen hatte.

Kaum zwei Sekunden, nachdem sich die Thür des Zimmers aufgethan hatte, hielt er das Heft seines geöffneten Taschenmessers mit brennenden Fingern umklammert; – noch einmal schien es, als wollte die Kraft ihm versagen, ehe das Entsetzliche geschah; – dann aber ein Ruck, ein Sprung, ein heiserer, unartikulirter Schrei – und noch ehe Lothar von Brenckendorf seinen Fuß hatte auf die erste Treppenstufe setzen können, fuhr die hochgeschwungene Faust mit der blinkenden Waffe auf seine Schulter nieder.

Aber die grauenhafte Absicht des Unzurechnungsfähigen wurde nicht erreicht. Lothar hatte das verdächtige Geräusch hinter seinem Rücken vernommen. Blitzschnell wandte er sich um, und wenn es auch zu spät war, dem Meuchelmörder in den Arm zu fallen und den Stoß zu verhindern, so konnte er denselben doch mit der schützend erhobenen linken Hand auffangen, fast gleichzeitig mit der kraftvollen Rechten den Hals des Angreifers packend.

Beinahe lautlos hatte sich der verhängnißvolle Zusammenprall vollzogen: nur das Messer war mit schwachem, metallisch klingendem Aufschlagen zu Boden gefallen. Hudetz stierte mit irr blickenden, verglasten Augen in das Gesicht seines Todfeindes; seine Fähigkeit zu denken schien völlig erloschen; er machte so wenig einen Versuch, Widerstand zu leisten, als zu entfliehen.

Da trat Marie auf die Schwelle ihres Zimmers, bleich, mit thränennassen Augen und einer jungfräulichen Madonna jetzt vielleicht wirklich ähnlicher als je. Sie hatte nichts von Hudetz’ unseliger Wahnsinnsthat gesehen, sie sah nur, daß Lothar die hinfällige, gebrechliche Gestalt mit eisernem Griff gefaßt hielt, und mit einem Ausdruck unwilligen Erstaunens rief sie ihm zu:

„Was soll das bedeuten? – Willst Du etwa meinen Besuchern auf solche Weise den Zutritt zu mir verwehren?“

„Deinen Besuchern?“ fragte er zurück, und die Erregung, in welche der Vorfall ihn versetzt haben mußte, verrieth sich nicht in seiner Stimme. „So kennst Du diesen Menschen? – Und Du hattest ihn erwartet?“

„Wäre ich irgend jemand Rechenschaft darüber schuldig? Aber ich bitte Dich allen Ernstes, diesem abscheulichen Auftritt ein Ende zu machen. Die Zahl meiner Freunde ist nicht so groß, daß ich ruhig zusehen könnte, wie man den aufrichtigsten und uneigennützigsten von ihnen auf der Schwelle meiner Wohnung mißhandelt und beschimpft.“

In demselben Augenblick, da sie den Meuchelmörder ihren Freund genannt, hatte Lothar ihn freigegeben.

„Gehen Sie!“ sagte er kurz und hart. „Dort hinab! – Mag Ihnen denn ein anderer das Handwerk legen!“

Und Hudetz gehorchte, wie er wahrscheinlich auch jedem anderen Befehl gehorcht haben würde. Stumm, gebeugt, mit kraftlos herabhängenden Armen, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach Marie umzusehen, schlich er die Treppe hinunter.

„Bleiben Sie, Herr Hudetz!“ rief Marie halblaut, indem sie eine Bewegung machte, als ob sie ihm nacheilen und ihn zurückhalten wollte. Aber mit ausgestrecktem Arm hinderte Lothar sie daran, weiter zu gehen.

„Mag der Elende Dein Freund gewesen sein bis zu diesem Augenblick – jetzt ist er es nicht mehr! Denn, wie Du mich auch hassen magst, Marie, Du wirst darum nicht Gemeinschaft haben wollen mit Banditen und Meuchelmördern.“

Sie sah mit starrem Blick in sein auffällig erbleichendes Gesicht.

„Was sagst Du da, Lothar? Aber es ist ja nicht möglich!“

Stumm deutete er mit der Rechten auf das am Boden liegende Messer. Ein Ausruf des Entsetzens rang sich von Mariens Lippen. Sie beugte sich nieder, um die Waffe aufzuheben; aber schon im nächsten Augenblick schleuderte sie sie wieder von sich, wie wenn sie ein ekelhaftes Gewürm in den Fingern gehalten hätte. Mit allen Anzeichen des furchtbarsten Schreckens stürzte sie auf Lothar von Brenckendorf zu.

„Blut! – Blut! – Um Gotteswillen, Lothar! Du bist doch nicht verwundet?“

„Nicht so sehr, als es in Deines ehemaligen Freundes Absicht gelegen haben mag,“ gab er ruhig zurück. „Ich fing das Messer auf, und der Stoß, der für meine Brust bestimmt war, streifte mir nur die Hand.“

Er hatte vorhin bei Mariens Erscheinen die Linke in die Tasche seines Ueberrocks gesteckt. Jetzt, da er das ungläubige Entsetzen auf ihrem marmorblassen Antlitz sah, zog er sie heraus, um sie von der Wahrheit seiner beruhigenden Versicherung zu überzeugen. Das verletzte Glied war mit Blut überströmt, und aus der tiefen, klaffenden Schnittwunde quoll noch immer ungehemmt der purpurne Lebenssaft.

Marie schrie nicht auf und sie wurde nicht ohnmächtig, aber sie erfaßte mit beiden Händen den gesunden Arm Lothars.

„Du darfst nicht gehen! – Ich lasse Dich so nicht fort! – Deine Hand muß verbunden werden – wir müssen einen Arzt holen, – o, ich beschwöre Dich, bringe mich nicht zur Verzweiflung, indem Du gehst!“

Es war nichts mehr von Haß und Feindschaft in ihrer Stimme, in ihren Augen, die mit so heißem leidenschaftlichen Flehen die Sprache der Lippen unterstützten. Doch Lothar machte sich mit sanfter Gewalt aus ihren Händen frei, und indem er die blutende Hand wieder in der Tasche verbarg, sagte er mit ernster Bestimmtheit:

„Die Wohnung einer jungen Dame ist nicht der rechte Ort für solche Hilfeleistung. Ich danke Dir für Dein Anerbieten, aber die kleine Schramme hat nichts zu bedeuten und sie wird mir auf der nächsten Sanitätswache noch früh genug verbunden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 503. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_503.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)