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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Doch nun ist es ja überwunden, das und alles andere, was mich beunruhigt und geängstigt hat in dieser häßlichen Zeit! Nun bin ich Dein, und ich will mir rechtschaffen Mühe gehen, Deinem Ideal so nahe zu kommen, als es einem schwachen Menschenkinde nur immer möglich ist!“

Nicht länger vermochte Wolfgang an sich zu halten. Die elfenhafte, schmiegsame Gestalt zärtlich an sich drückend, verschloß er ihr die süßen Lippen, die so herzig plaudern konnten, mit einem langen, durstigen Kuß. –

Erst nach einer geraumen Weile kam ihnen die Erinnerung an die unerbittlichen Forderungen des Lebens und an den ernsten Widerstand, welcher sich ihnen unzweifelhaft entgegenstellen würde. Aber diese gewisse Aussicht hatte für Wolfgang so wenig etwas Niederdrückendes und Entmuthigendes wie für Cilly.

„Wir werden einen Kampf bestehen müssen, mein Liebling,“ meinte er, „aber wir haben keine Ursache, uns vor ihm zu fürchten. Ich fühle mich stark genug, um in der Vertheidigung solchen Besitzes selbst gegen einen kommandierenden General Sieger zu bleiben.“

„Wie sollte er auch widerstehen können, wenn er von zwei Serien gleichzeitig angegriffen wird!“ fügte Cilly in strahlender Heiterkeit hinzu. „Meine Aufgabe wird es sein, die feindliche Stellung auszukundschaften und mit kleinem Geplänkel den Hauptschlag vorzubereiten. Ist dann aber meiner Ueberzeugung nach die Stunde der Entscheidung gekommen, dann werde ich Dich rufen, und Du versprichst mir feierlich, daß nichts in der Welt Dich hindern wird, unverzüglich zu kommen, und wärest Du auch eben im Begriff, dem Schah von Persien einen Zahn zu plombieren.“

„Ich lasse ihn sitzen! Sei versichert, mein Herz, daß ich ihn sitzen lasse!“

Cilly schlang ihre Arme noch einmal um seinen Hals, dann aber flog sie behend wie ein Kätzchen zur Thür.

„Auf Wiedersehen! Auf frohes, glückseliges Wiedersehen! – Und Du darfst mich nicht hinaus begleiten, hörst Du? Da müßten wir ja aus Furcht vor Ueberraschung einen so frostigen Abschied von einander nehmen wie damals, als ich Dir so gerne - doch nein, ich sage es nicht, denn Du könntest sonst gar zu eingebildet werden! – Und noch eins: wenn Du mir Deiner Schwester wegen schreibst, mußt Du mir auch die Adresse des kleinen August mittheilen! Er steht von heute an unter meinem besonderen Schutze; denn im Grunde ist er doch an allem schuld!“

„Wenn es so ist, dann hat mir dieser arme kleine Patient das großartigste Honorar gezahlt, das ich je empfangen habe und empfangen werde. Ich werde in seiner Schuld bleiben, auch wenn es mir gelingt, ihm seine ganze Gesundheit wiederzugeben.“

Ein letzter Gruß, ein letzter zärtlicher Blick; dann schloß sich die Thür des Operationszimmers hinter dem Töchterchen des Generals.




Der Direktor Konstantin Rainer war kaum jemals in schlechterer Laune gewesen als nach dieser Generalprobe zur „Minna von Barnhelm“, die heute abend im Schillertheater zum ersten Male aufgeführt werden sollte. Publikum und Kritik hatten in der letzten Zeit eine sehr verdrießliche Zurückhaltung gegen seine Kunstanstalt beobachtet, und er bedurfte dringend eines großen, durchschlagenden Erfolges, um in dem scharfen Wettbewerb mit den anderen hauptstädtischen Bühnen wieder einen gewissen Vorsprung zu gewinnen. Gerade auf die heutige Vorstellung hatte er große Hoffnungen gesetzt, und es war begreiflich, daß ihn die Erkenntniß, sich in der künstlerischen Leistungfähigkeit einiger Hauptdarsteller empfindlich getäuscht zu haben, in eine nichts weniger als fröhliche Stimmung versetzte. Mit finster gefurchter Stirne ging er dröhnenden Schrittes an der Bühnenrampe auf und nieder, und die beiden Unglücklichen, denen in solchen Fällen stets die leidvolle Aufgabe zufiel, dem Zorn des Gewaltigen als Blitzableiter zu dienen, der Inspicient und der Souffleur, hatten bereits eine ganze Fluth unverdienter Vorwürfe stillschweigend über sich ergehen lassen müssen.

Nun trat der gefürchtete Beherrscher des Schillertheaters mit einem tiefen Seufzer an den kleinen Regietisch, der vor der ersten Seitencoulisse stand, und setzte die Glocke auf demselben schallend in Bewegung.

„Fertig zur Probe für die ‚Geschwister‘!“ tönte seine klangvolle Stimme über den weiten Bühnenraum hinweg. „Ist Fräulein von Brenckendorf etwa noch immer nicht da?“

In merklich gereiztem Tone mußte er diese Frage zum zweiten Mal vernehmen lassen, ehe ihm von Marie Antwort kam. Sie hatte in dem dunkelsten und abgelegensten Winkel hinter den Coulissen gesessen, weil sie sich ebensosehr vor den wohlgemeinten Rathschlägen ihrer neuen Berufsgenossen als vor deren dreisten Vertraulichkeiten fürchtete. Konstantin Rainer begrüßte sie nur mit einem leichten, herablassenden Neigen des olympischen Hauptes und mit einem kurzen:

„Gut! – Wir fangen also an!“

Dann trat er an das auf der rechten Seite der Bühne aufgestellte Pult, um die ersten Worte des Wilhelm, dessen Rolle er selbst übernommen hatte, zu sprechen. Es war bewunderungswürdig, mit welcher Schnelligkeit und mit wie sicherer Beherrschung der Ausdrucksmittel er sich aus dem mißvergnügten und sorgenvollen Theaterdirektor in den still zufriedenen, ruhig ernsten Geschäftsmann zu verwandeln wußte. Marie, die wieder um einen Schritt in die Coulisse zurückgetreten war, verwandte während seines ersten Monologes keinen Blick von ihm und folgte mit fast ängstlicher Spannung seinem beredten Gebärdenspiel. Bei allen früheren Proben hatte Rainer nach der Gewohnheit berühmter Schauspieler seine Rolle nur flüchtig hingesprochen und sich darauf beschränkt, seinen Partnern ihre Stichworte anzugeben. Heute zum ersten Mal spielte er den Wilhelm wirklich so, wie er ihn am Abend zu geben gedachte, und er ahnte sicherlich nicht, eine wie eigenartige Wirkung dieser Wechsel auf die junge Debütantin übte. Bis zu dieser Stunde war die Gestalt des Mannes, von dem sie nach der Vorschrift des Dichters mit so zärtlicher Wärme zu sprechen, dem sie so süße Geständnisse hingebendster Liebe zu machen hatte, nicht viel mehr gewesen als ein schattenhaftes Gebilde ihrer eigenen Phantasie, – und keine Regung mädchenhafter Scham hatte sie gehindert, den ganzen Reichthum ihres Empfindens in die Worte ihrer Rolle ausströmen zu lassen. Nun aber war das mit einem Mal ganz anders geworden! In greifbarer, lebendiger Gestalt, als ein Mensch von Fleisch und Blut stand jener Wilhelm ihr plötzlich gegenüber, und die Züge, welche er trug, waren wahrlich nicht die Züge, die ihre Einbildungskraft ihm gegeben hatte. Eine Beklommenheit, gegen die sie sich vergebens zu wehren suchte, bemächtigte sich ihrer, eine unerklärliche zagende Scheu, unter deren peinlichem Druck sie ihr erstes Stichwort versäumte, ohne es zu bemerken.

Erst als Rainer sich in unwilliger Kopfbewegung gegen die Coulisse wandte und mit einem nicht mißzuverstehenden Blick und erhobener Stimme seinen letzten Satz wiederholte, wurde sie sich ihres Fehlers bewußt; aber die Befangenheit, mit der sie jetzt ihre Auftrittsscene spielte, konnte dadurch natürlich nicht verringert werden. Durch wiederholtes Räuspern und Achselzucken gab der Direktor seine Unzufriedenheit zu erkennen; aber er unterbrach den Fortgang der Probe mit keinem Wort, bis nach der Scene zwischen Marianne und Fabrice seine Stimme plötzlich dröhnend vom Regietische her erklang: „Nein, das ist nicht auszuhalten! Man erkennt Sie ja gar nicht wieder, mein Fräulein! Ich muß Sie dringend bitten, sich die Sache nicht gar zu leicht zu machen! Den ganzen Auftritt noch einmal!“

Schweigend gehorchte Marie dem barschen Befehl, obwohl der rücksichtslose Tadel in Gegenwart so vieler neugieriger Zeugen ihr die Thränen in die Augen getrieben hatte. Rainers Kopfschütteln bewies, daß er auch jetzt keineswegs befriedigt sei, und da Marie dies Kopfschütteln sehr wohl gesehen hatte, wurde sie nur noch ängstlicher und unsicherer als zuvor.

Dann kam die letzte, entscheidende Scene, welche sie mit ihm selber zu spielen hatte, dies wunderbar zarte, unschuldsvolle Liebesgeständniß eines Mädchenherzens, das sich nur dunkel der Natur seines eigenen Empfindens bewußt ist. Konstantin Rainer gab seinen Wilhelm in dieser Scene unübertrefflich; aber je mehr sich vor Mariens Augen die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit verwischten, desto weniger vermochte sie Herrin zu bleiben über jene spröde, mädchenhafte Scheu, durch welche sie schon während der früheren Auftritte verhindert worden war, ihre ganze Seele in die Worte des Dichters zu legen. Als ihr Partner nach der Vorschrift seiner Rolle in stürmisch hervorbrechender Zärtlichkeit und Glückseligkeit die Weinende in seine Arme riß und sie mit der ganzen Leidenschaft eines wirklichen Liebhabers an seine Brust drückte, folgte Marie einem unbezwinglichen, inneren Antriebe und stieß ihn fast heftig zurück.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 538. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_538.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)