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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Dir das Ansehen, als reisten wir als gute Kameraden!“ Und weich fügte er hinzu: „Ich bitte Dich, Ingeborg, thu’, wie ich Dir sage, und vertraue mir! Du sollst Dich nicht in mir täuschen!“

Ingeborg hatte von dem Augenblick an, da ihre Bande gelöst waren, nur den einen Gedanken – Flucht! – Sie wußte, was sie von Larsens Versprechungen zu halten hatte, und daß auch bei den Bewohnern des einsamen Heidekrugs, selbst wenn es ihr gelang, sich diesen heimlich anzuvertrauen, auf Hilfe schwerlich zu rechnen war. In ihr aber stand es fest, daß sie lieber sterben als sich der rohen Gewalt Larsens fügen wollte. Sie suchte seine Wachsamkeit zu täuschen, indem sie scheinbar seinen Worten Vertrauen schenkte und auf seine Vorschläge einging. Wie er sich nun aber während des Weiterfahrens zu dem kutschirenden Jeppe vorbeugte, um ihn zu einer Beschleunigung der bisher eingehaltenen Gangart der Rosse zu veranlassen, benutzte sie diesen Augenblick, um sich mit tollkühnem Sprung von dem Fuhrwerk herabzuschwingen. Sie stürzte zu Boden, raffte sich auf, und noch ehe Jeppe die Pferde zügeln und der wild emporschnellende Kapitän abspringen konnte, war sie schon in dem dichten Nebel, der jetzt weithin die Heide bedeckte, verschwunden.

Nur eine kurze Strecke war ihr Larsen nachgeeilt, dann stand er, die völlige Aussichtslosigkeit weiterer Verfolgung einsehend, still, ballte die Faust und schrie ihr nach in den wogenden Nebel: „Das bezahlst Du mir, Ingeborg Elbe! Ein drittes Mal sollst Du mir nicht entwischen!“

Dann kehrte er bebend vor Wuth zu Jeppe zurück und fuhr mit ihm nach dem Heidekrug. In seiner maßlosen Erregung überhäufte er den Dänen mit Vorwürfen und Beschuldigungen, und darüber geriethen die beiden Spießgesellen in einen heftigen Streit, von dessen Lärm noch lange die Wände des einsamen Gehöfts widerhallten.

Inzwischen rannte Ingeborg wie ein gehetztes Wild über die Heide; erst ziel- und planlos, dann, wie sie glaubte, die Richtung nach Trollheide einschlagend.

Freilich ängstigte es sie, daß plötzlich der Mond verschwand, der Abend gleich einem dunklen Leichentuch herniedersank und bald nur noch der Instinkt ihre Schritte lenken mußte. Sie hoffte, in kurzer Zeit einen Landweg zu erreichen, der nach Trollheide führte, und wenn sie zu diesem gelangte, war alles gut.

Aber während sie nun dahinflog, sank plötzlich ihr Fuß tief in den Erdboden. Sie war auf einen Streifen sogenannten wandernden Moorlandes gerathen. Sie zog den Fuß mühsam wieder heraus, änderte die Richtung, wollte zurück, aber immer weicher wurde unter ihren Füßen der Grund, und plötzlich sank sie tief bis an die Hüften in die tückische schwarze Erde.

Ein Schrei wahnsinniger Angst drang durch die Nacht, ein so furchtbarer Schrei, daß zwei in der Nähe hockende Krähen mit lautem Gekrächze aufflogen.

Ingeborgs Bemühungen, sich wieder herauszuarbeiten, ließen sie nur immer tiefer einsinken. So blieb ihr, als sie endlich doch auf etwas Festes stieß – es mochte wohl der Stumpf einer alten, im Moor begrabenen Eiche sein – nichts übrig, als regungslos auf dem so gewonnenen Stützpunkt zu verharren, mit der schwachen Hoffnung, daß der Zufall ihr eine Hilfe schicke.

Und der Abend senkte sich immer tiefer herab, die Nacht kam; kühle Luft umwehte ihre Stirn; auf ihre Brust drückte die schwere Moorerde wie Centnerlast, und ihr über alle Maßen erregtes Gehirn schuf ihr die entsetzlichsten Vorstellungen. Im Moor versunken! Vielleicht nach langen, langen Stunden Erlösung! Aber auch eben nur vielleicht! Hier wohnten keine Menschen, ihr Ruf verhallte in der Oede. – Und dann blitzte doch wieder ein Schein von Hoffnung in ihr auf. – War sie nicht eben noch auf festem Grunde gewesen, war nicht plötzlich die Erde gewichen? Würde sie nicht, durch das helle Tageslicht unterstützt, die Möglichkeit gewinnen, sich aus dem fürchterlichen Zustande zu befreien?

Aber konnte sie die Nacht überleben? Bisweilen war’s ihr schon, als ob die Lunge den Dienst versagte, und ein Gefühl von Schwere hatte sich ihrer Glieder bemächtigt, als sei Blei hineingegossen. Ja, das Schicksal war gegen sie! Es wollte ihr Verderben!

Die Unglückliche erhob die Augen zum Himmel. Der Mond lag noch immer hinter den aufgestiegenen Wolken versteckt, und nur hier und dort schimmerte ein Stern, gleichsam furchtsam, aus dem Dunkel hervor. Ein scharfer, modriger Geruch peinigte das gequälte Weib; eine grenzenlose Abspannung ohne Schlaf bemächtigte sich ihrer – und nun – nun fuhr gar ein harter, rauher Stoßwind daher und schnob und pfiff über Heide und Moor. – Es rasselte und stöhnte in der Luft, als ob böse Geister losgelassen wären.

„Barmherziger Gott! Erbarme dich meiner!“ Ingeborg schrie’s durch Wind und Sturm und wußte doch, daß keine Wunder mehr geschehen. Und durch ihr Gehirn zog alles in raschem bunten Wechsel. Das Bild ihres Vaters stieg vor ihr auf – Larsen – Ericius – ihre verstorbene Tante, viele Einzelheiten ihres Lebens – zuletzt Tromholt. Gewiß, wenn er auf Limforden geblieben wäre, der Schurke hätte nicht gewagt, sich ihr zu nahen. – Tromholt, Tromholt! Er würde sicher herbeieilen, wenn er wüßte, daß sie hier unter entsetzlichen Qualen dem Tode verfiel. – Ja – Tod! Hu – hu – – Nun fegte der Wind wieder und löste ihr Haar und wirbelte Staub auf, der in ihre Augen flog. Und die Arme waren gefangen, und wenn sie sie hervorzog, war’s ihr, als ob sie tief und tiefer sinke. – Zuletzt verlor sie die Besinnung, während über ihr in der Luft abermals die unheimlichen schwarzen Vögel krächzten. –




11.

In Snarre saßen die Herrschaften beim Abendessen. Der Graf hatte es an nichts fehlen lassen, seinen Gästen den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen, und die Gräfin Snarre, eine alte Dame von vornehmem Aussehen, mit dunklen Augen und weißem, unter einem schwarzseidenen Spitzentuch, das sie stets trug, silbern hervorschimmerndem Haar, unterstützte ihn dabei in liebenswürdigster Weise. Zwischen ihr und Frau Ericius fanden sich manche Berührungspunkte aus früherer Zeit, die den Verkehr zwischen ihnen besonders lebhaft machten; Dina gab sich der Freude hin, das Landleben, für welches sie immer geschwärmt hatte, endlich in vollen Zügen genießen zu dürfen, und nur Susannens Wesen war in dem Jahr, das seit ihrer Trennung von Graf Utzlar vergangen war, womöglich noch ernster und gemessener geworden. Graf Snarre mußte sich zu seiner großen Enttäuschung überzeugen, daß sie seinen zärtlichen Bemühungen, sie aufzuheitern, nur ein zerstreutes Ohr lieh, oft in plötzliche Träumerei versank und bei aller Höflichkeit, die sie ihm als Gast schuldig war, die Unterhaltung der beiden älteren Damen der seinigen vorzuziehen schien. Diese Wahrnehmung verstimmte ihn um so mehr, als er gerade auf Susannens Anwesenheit in Snarre all seine Hoffnung gesetzt hatte. Eine um so aufmerksamere Zuhörerin fand er an Dina, die auf seine Neckereien und Vergnügungsvorschläge bereitwillig einging und verständnißvoll bemüht war, das einsilbige Wesen der Schwester durch ihre lustige Plauderhaftigkeit wieder gutzumachen. Ihr gelang es auch wirklich, den Mißmuth, der sich Snarres bemächtigen wollte, zu dessen eigenster Ueberraschung in kurzer Zeit zu bannen; ihr drolliges Wesen belustigte ihn ungemein, so daß er darüber Susannens Zurückhaltung mehr und mehr vergaß und sich ganz dem Zauber des sonnigen Humors ihrer Schwester hingab.

Eben da die Unterhaltung in lebhaften Fluß kam, wurde Alten gemeldet. Nachdem alles Nachforschen nach Ingeborg auf Limforden vergeblich geblieben, war er nach Snarre hinübergeritten, hatte aber schon auf dem Gutshof zu seiner Enttäuschung erfahren, daß Ingeborg auch hier, wie er bei ihrem freundschaftlichen Verhältniß zu Dina einen Augenblick gehofft hatte, nicht anwesend sei.

Die Nachricht von dem Verschwinden des Mädchens erregte natürlich auch in diesem Kreis die allgemeinste Bestürzung. Graf Snarre war bereit, die zu Ingeborgs Wiederauffindung zu unternehmenden Schritte aufs wirksamste zu unterstützen, ja, auf Dinas inständige Bitte entschloß er sich sogar, selbst mit den Suchenden aufzubrechen, um der Freundin womöglich heute noch eine beruhigende Nachricht über das Los Ingeborgs zu bringen.

„Ich werde kein Auge zuthun, bis Sie zurück sind, Herr Graf!“ rief sie ihm noch nach, als er mit Alten und Elbe, die ihre todmüden Pferde hier zurückließen, den eigenen Wagen bestieg und in die Nacht hinausfuhr. Sie hatten beschlossen, zunächst nach Trollheide und von da nach Mückern zu fahren, um zu sehen, ob an einem dieser beiden Orte nicht inzwischen eine Kunde von der Verschwundenen eingetroffen sei, die ihren ferneren Nachforschungen die Richtung wies. Aber schon in Trollheide erfuhren sie, daß der Doktor von Mückern gleich nach Elbes Fortgang angefahren sei und die Nachricht gebracht habe, daß das Mädchen schwerkrank im Heidekrug liege, wohin man denn auch auf seine Anordnung das nöthige Bettzeug geschickt habe. Als er am Morgen, so habe der Doktor erzählt, sehr früh von

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