Seite:Die Gartenlaube (1890) 565.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


„Nein, nein,“ unterbrach ihn Marie hastig, „nur nicht diese fürchterlichen Reden! – Aber meine Lage, Herr Doktor, ist eine überaus peinliche. Der Kranke ist mir fast ein Fremder, ich kenne seine Verhältnisse nicht, und wenn er nun in meiner Behausung stirbt, so bin ich vollkommen rathlos, denn ich stehe eben ganz allein.“

„Hat denn der Kranke gar keine Angehörigen, welche man benachrichtigen und herbeirufen könnte?“

„Ich weiß es nicht; aber ich glaube kaum, daß ihm hier Verwandte leben. Er führte meines Wissens stets ein sehr stilles und eingezogenes Dasein!“

Der Arzt wiegte bedenklich den Kopf.

„Hum, dann ist es doch vielleicht besser, wenn ich seine schleunige Ueberführung nach der Charité veranlasse. Es ist zwar eine Grausamkeit gegen den Aermsten; aber da er ohnedies hoffnungslos verloren ist, muß die Rücksicht auf Sie doch wohl allem andern vorangehen.“

In begreiflicher Furcht vor den Folgen dieses entsetzlichen Abenteuers fühlte sich Marie gedrängt, ihm ihre Zustimmung zu seinem letzten Vorschlage auszusprechen; da aber fiel ihr Blick zufällig auf das kleine unscheinbare Bild vor dem Spiegel, auf das himmlisch milde Antlitz der Maria im Rosenhag. Und sie dachte daran, daß jener Unselige in seinen wilden Wahnvorstellungen die gnadenreiche Gottesmutter für ihr eigenes Abbild gehalten – daß er in seiner höchsten Verzweiflung, in seiner letzten furchtbaren Noth zu ihr geflüchtet war im Vertrauen auf ihre Barmherzigkeit und Güte. – Nein, was auch immer über sie kommen mochte, sie hatte nicht die Kraft, dies Vertrauen zu täuschen und den Sterbenden von ihrer Schwelle zu jagen.

„Ich danke Ihnen, Herr Doktor,“ sagte sie; „aber ich möchte mir Ruhe und Bequemlichkeit doch nicht durch eine Grausamkeit gegen den Schwerkranken erkaufen. Lassen wir ihn immerhin hier! Auch wenn das Schlimmste wirklich eintreten sollte, wird sich für das, was ich zu thun habe, Rath finden lassen.“

Elektrische Straßenbahn in Bremen.
Zeichnung von W. Stöwer.


„Das ist ein hochherziger Entschluß, mein Fräulein, und ein muthiger zugleich! Aber Sie dürfen versichert sein, daß es Ihnen an meinem Beistande nicht fehlen wird. Eine unabweisbare Pflicht ruft mich leider jetzt an das Schmerzenslager einer Kranken, die ich nicht im Stich lassen darf, weil sie dem Leben vielleicht noch erhalten werden kann. In längstens zwei Stunden aber bin ich wieder hier, und ich glaube kaum, daß die Entscheidung schon früher eintreten wird. Meine Rathschläge für die Behandlung des Kranken sind sehr einfach. Sorgen Sie vor allem dafür, daß ihm volle Ruhe gelassen wird, daß niemand zu ihm spricht und daß es in seiner unmittelbaren Umgebung möglichst still hergeht. Sollte er trotzdem wieder zu sich kommen und von neuem zu phantasieren beginnen, so flößen Sie ihm einige Tropfen der Flüssigkeit ein, zu welcher ich Ihnen hier das Rezept aufschreibe. Weiter können wir, ohne ihn unnütz zu quälen, nichts für ihn thun.“

Er verabschiedete sich, und Marie schickte die noch immer vor Angst und Aufregung zitternde Aufwärterin hinunter, um das Heilmittel in der nächsten Apotheke anfertigen zu lassen. Nicht mehr aus Furcht vor dem Unglückseligen, welcher da mit wächsernem Antlitz regungslos und unhörbar athmend auf ihrem Ruhebette lag, sondern nur, um nach der Vorschrift des Arztes für die größte Ruhe in seiner unmittelbaren Umgebung Sorge zu tragen, ging Marie in das Nebenzimmer, die Thür desselben weit hinter sich offen lassend. Aber sie war noch nicht dazu gekommen, sich dort niederzulassen, als draußen auf dem Gange ein fester, männlicher Schritt vernehmlich wurde, dessen wohlbekannter Klang sie in Schreck und zugleich in namenloser Freude auffahren ließ. Frau Pahler mußte nach ihrer üblen Gewohnheit die Wohnungsthür wieder nicht verschlossen haben, da ein Besucher so ungehindert hatte eintreten können. Beide Hände auf das klopfende Herz gepreßt, stand Marie mitten im Zimmer; ihr Athem stockte, und sie war außer stande, das Pochen des Ankömmlings mit der üblichen Aufforderung zum Eintritt zu beantworten. Und als nun mit sichtlichem Zögern die Thür geöffnet wurde, als die Gestalt des Mannes, den zu sehen sie erwartet hatte, wirklich auf der Schwelle erschien, da rang sich der Ausruf „Lothar!“ wie ein Freudenschrei von ihren Lippen los, und es war, als ob sie ihm mit erhobenen Händen entgegeneilen wollte. Aber ein einziger Blick in sein ernstes, bleiches, unbewegliches Gesicht bannte sie auf ihren Platz.

„Guten Tag, Marie!“ sagte er, und seine sonst so klare Stimme klang unsicher und verschleiert. „Ich glaubte nicht, daß wir uns hier noch einmal gegenüberstehen würden, und so lange ich nur meinem eigenen Willen zu folgen hatte, wäre es gewiß niemals geschehen. Aber ich gehorche einer Pflicht – ich komme in meiner Eigenschaft als Untersuchungsrichter und ich bitte Dich, mich nicht hinaufzuwerfen, da ich diesmal solcher Aufforderung nicht Folge leisten dürfte.“

Marie starrte ihn an, als hätte er in einer Sprache geredet, welche sie nicht verstand. Eiskalt war es ihr vom Scheitel bis zur Ferse über den Körper gerieselt, und sie fühlte einen Schmerz in der Brust, als hätten eiserne Krallen nach ihrem Herzen gegriffen.

„Als Untersuchungsrichter?“ wiederholte sie tonlos. „Verzeih’; aber ich weiß nicht, was das bedeutet!“

„Es handelt sich um die Ermittelung jenes Verbrechers, welcher Jan van Eycks ‚Madonna im Rosenhag‘ aus dem Berliner Museum entwendet hat. Seine Spur – seine Spur weist hierher, Marie!“

Es gab ein tiefes Schweigen, während dessen sie sich unverwandt in die Augen sahen. Dann, da sie augenscheinlich nicht willens war, ihm zu autworten, fuhr Lothar langsam fort:

Ich suchte lange nach einem Menschen, dessen Zeugniß mir für die Aufklärung der geheimnißvollen That von einigem Werthe schien. Eine junge Malerin, die sein verdächtiges Gebahren in der Nähe des betreffenden Kabinetts beobachtet haben wollte, bezeichnete ihn mit aller Bestimmtheit als den Thäter, aber eine Reihe scheinbar entlastender Thatsachen ließ mich glauben, daß sie sich in einem Irrthum befände. Es ergingen Aufforderungen in den Zeitungen, aber der Mann meldete sich nicht, und alle Nachforschungen der Polizei waren nicht imstande, seine Persönlichkeit wie seinen Aufenthalt zu ermitteln. Vor einer Stunde aber erschien in meinem Bureau jene junge Malerin aus dem Museum. Sie war dem verdächtigen Menschen auf der Straße begegnet, sie hatte ihn, da ein Schutzmann sich weigerte, ihn auf ihre

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 565. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_565.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)