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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Natur.“ Und ein anderer forderte, man solle die Kranken nicht nach dem Süden verschicken, weil sie im Eisenbahnwagen und in den Gasthöfen meist ein recht trauriges Dasein führten. Schließlich gelangte folgender Antrag zur Annahme: „Der Verein für innere Medizin“ beauftragt seinen Vorstand, sich mit den Vorständen anderer Vereine in Verbindung zu setzen, um die Gründung von Heilanstalten für Schwindsüchtige in der Nähe von Berlin zu bewerkstelligen.“ Damit ist diese wichtige Angelegenheit in guten Händen.

Ich habe den Verlauf der Behandlung im Berliner „Verein für innere Medizin“ zuerst geschildert, da diese die letzte Kundgebung in dieser Beziehung ist und aus der Hauptstadt des Deutschen Reiches kommt. Vorher schon hatte Professor Finkelnburg aus Bonn in der Generalversammlung des Niederrheinischen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege am 2. Dez. 1889 zu Düsseldorf einen Vortrag gehalten: „Ueber die Errichtung von Volkssanatorien für Lungenschwindsüchtige“, in welchem derselbe ebenfalls, ausgehend von der Nutzlosigkeit aller gegen die Lungenschwindsucht neuerdings empfohlenen Mittel und von der erschreckend großen Verbreitung der Schwindsucht in Rheinland und Westfalen, wo zwischen 18,4 % bis 61 %, in einigen Berufsklassen, z. B. unter den Appreteuren in Crefeld, bis zu 92 % aller Todesfälle auf die Tuberkulose treffen, für die Errichtung von Volksheilstätten für Lungenkranke lebhaft eintritt. Auch Professor Finkelnburg betont die Ungefährlichkeit des Tuberkelparasiten gegenüber gesunden Menschen mit ungeschädigten Organen, die Unzulänglichkeit, ja geradezu Kärglichkeit der den unbemittelten Lungensüchtigen Deutschlands gewidmeten Krankenhauspflege, beweist diese seine Behauptung durch Zahlen, welche feststellen, daß im ganzen Deutschen Reiche auf je 100 Aufnahmen in die allgemeinen Krankenhäuser nur 4 % Lungenschwindsüchtige kamen, und verlangt am Schlusse seiner lehrreichen und vom edelsten Geiste getragenen Rede ein thatkräftiges Vorgehen in erster Reihe seitens der Gemeindeverwaltungen, insbesondere der größeren Städte, und der Krankenkassenvereine, denen größere Verwaltungsverbände, die Provinzial- und die Staatsbehörden zum Vortheil des Gemeinwohls mithelfend zur Seite stehen müßten. Erst nach einem thatkräftigen Vorgehen dieser berufenen Vertretungen öffentlicher Fürsorge sei bestimmt zu erwarten, daß auch die Privatwohlthätigkeit einem so menschenfreundlichen Unternehmen ihre Unterstützung zuwenden werde. Noch auf einen besonderen Punkt in der Rede Professor Finkelnburgs möchte ich hier aufmerksam machen. Er weist nämlich den zu errichtenden Anstalten für unbemittelte Lungenkranke noch einen erziehlichen Zweck zu, indem er annimmt, daß durch die mit Strenge durchgeführte Gewöhnung ihrer Pfleglinge an vorsichtige Behandlung des Auswurfes – und wie ich hinzufügen möchte, an natürliche Lebensweise, an Luft und gesunde Kost – allmählich eine Aufklärung und eine Erziehung weiterer Volksschichten außerhalb der Anstalten zur richtigen Pflege lungensüchtiger Kranken sich ergeben werde. Anstatt zu Ansteckungsherden der Krankheit zu werden, dürften diese Anstalten im Gegentheile Ausstrahlungspunkte einer geregelten Verhütung der Ansteckungsgefahr auch im Familienleben werden.

Nur einen Monat später, am 3. Januar 1890, hielt der – von dem Kehlkopfleiden des Kaisers Friedrich her bekannte – Professor Dr. Schrötter in Wien im „Wissenschaftlichen Klub“ daselbst einen Vortrag „Ueber die Tuberkulose und die Mittel zu ihrer Heilung“. Er weist zunächst darauf hin, daß in Wien durchschnittlich täglich 15 Menschen derselben zum Opfer fallen, was im Jahre etwa 5500 macht, also an sich und im Verhältniß zur Zahl der Todesfälle überhaupt viel mehr als in Berlin. Wien ist recht eigentlich eine Schwindsuchtsstadt, in ihr fallen – statt 1/7 wie anderswo – 1/4 aller Menschen, also 25 % der Schwindsucht zum Opfer, und selbst die Wiener Aerzte nennen die Schwindsucht die „Wiener Krankheit“. Besonders in den Armen- und Arbeitervierteln haust dieselbe schrecklich. Ferner huldigt auch Schrötter wie wohl zur Zeit mit Recht alle erfahrenen Forscher der Annahme, daß sich der schwindsüchtige Mensch zur Zeit der Ansteckung unter ganz besonders günstigen Bedingungen zur Aufnahme der kleinen Lebewesen, also in einer zeitweilig besonders gesteigerten Empfänglichkeit befunden habe. Also auch Schrötter kommt ohne die Annahme einer angeborenen oder ererbten besonderen Veranlagung nicht aus. Besonders neigt er – das sei hier nur nebenbei bemerkt – der Ansicht zu, daß viele Erkrankungen an Schwindsucht in vorgerückterem Alter von einer aus der frühesten Kindheit herstammenden, aber Jahre lang ohne alle äußere Anzeichen bestehenden tuberkulösen Entartung der Lymphdrüsen ausgehen, woraus wir den Schluß zu ziehen haben, daß Kinder, auf denen der Verdacht ruht, mit tuberkulösen (skrophulösen) Drüsenherden behaftet zu sein, ganz besonders reichlich ernährt und durch sorgfältige Abhärtung widerstandsfähig gemacht werden müssen. Dies gilt besonders für die Zeit der Entwickelung.

Nachdem Schrötter sodann noch einige Worte über die nothwendigen Vorbeugungsmittel gesprochen und der Vernichtung der Auswurfstoffe Erkrankter das Wort geredet hat, gelangt er zu der Beantwortung der Frage: „Was haben wir nun aber mit dem einmal erkrankten Individuum zu thun? Ist die Tuberkulose heilbar?“

„Glücklicherweise unzweifelhaft ‚ja‘“ lautet die Antwort. Aber Tausende von Mitteln und Verfahrungsweisen sind als sichere Heilmittel gepriesen worden, keins hat dem vorurtheilsfreien, unparteiischen Prüfen der Wissenschaft standhalten können … „Eines aber hat sich unter allen Umständen als sicherstes Heilmittel erwiesen, nämlich die möglichste Hebung der Ernährung und Kräftigung des Organismus, und um diese zu erzielen, der reichlichste Aufenthalt in reiner Luft mit allen Anregungen, welche durch eine solche auf unsern Körper gegeben sind. In diese Bahn müssen wir somit unsere ganzen Bestrebungen lenken.“ Und nun kommt er ebenfalls zu dem Schlusse, daß es nothwendig sei, für die 3400 mittellosen Schwindsüchtigen Wiens, welche die allgemeinen Krankenhäuser bevölkern, eigene Heilanstalten zu errichten, während man es den Wohlhabenden überlassen könne, nach dem Rathe ihrer Aerzte Kurorte oder Sonderheilanstalten für Lungenkranke aufzusuchen. Die Kosten der Errichtung solcher Pflegestätten für unbemittelte Lungenkranke können nicht in Betracht kommen, wo es sich um das Wohl von Tausenden handele, von denen dem Staate eine große Menge erhalten werden könne. Auf dem Südende der englischen Insel Wight, in Undercliff, bestehe seit 21 Jahren eine solche für 280 unbemittelte Kranke bestimmte, in einer überaus reichen Weise ausgestattete Anstalt. Die Sterblichkeit in derselben betrage nur 3,8 %. Auch in Wien sei ein Verein in der Gründung begriffen, der sich zur Aufgabe stelle, Gleichgesinnte herbeizuziehen, um die nöthigen Mittel aufzubringen. An der Spitze desselben stehen die Direktoren der 3 größten Krankenanstalten Wiens.

Soweit Schrötter.

Es war mir eine große Genugthuung, den geneigten Lesern in kurzem Auszuge die Ansichten dreier so hervorragender Gelehrten an drei verschiedenen Universitäten mittheilen zu können Noch mehr Genugthuung gewährt es mir, daß es überall Aerzte sind, welche die Anregung zu einem so durchaus menschenfreundlichen Werke öffentlich gegeben haben.

Gemeinsam heben alle drei Redner hervor:

     a) Die Tuberkulose ist zwar ansteckend, aber ihre Ansteckungsfähigkeit wird bei weitem überschätzt.
     b) Die Tuberkulose ist heilbar, aber nicht durch eines der hundert gegen dieselbe angepriesenen Mittel, sondern nur durch dauernden Aufenthalt in reiner Luft und Kräftigung des gesammten Organismus.
     c) Das wird am besten erreicht in Sonderheilanstalten für Tuberkulöse, die aber durchweg nur den Bemittelten zugänglich sind; deshalb
     d) ist es nothwendig, Volksheilstätten für unbemittelte Lungenkranke in der Näche der großen Städte zu errichten.

Möge die fast gleichzeitig von drei Seiten ausgegangene Anregung auf fruchtbaren Boden fallen!

Wer meinem Berichte aufmerksam bis hierher gefolgt ist und auch meinen Artikel in Nr. 34 der „Gartenlaube“ von 1882 gelesen hat, dem muß es aufgefallen sein, daß keiner der drei angeführten Redner dafür eingetreten ist, solche Anstalten im Gebirge zu errichten. Dies wird verständlich aus dem Zwecke, den dieselben verfolgen. Es sollen die allgemeinen Krankenhäuser der großen Städte von den Schwindsüchtigen entlastet und letztere in möglichster Nähe derselben in besonderen Anstalten untergebracht werden. Da empfiehlt es sich allerdings schon der bedeutend vermehrten Kosten wegen nicht, die Schwindsuchtsheilanstalten für Unbemittelte weit ab von den Städten im Gebirge zu errichten. Sodann aber ist nicht zu verkennen, daß die neuen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 572. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_572.jpg&oldid=- (Version vom 9.2.2023)