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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Annie hatte sich einmal in der Stille über den unhöflichen Nachbar gewundert, ihn flüchtig von der Seite angesehen, gefunden, daß er ein anziehendes Gesicht habe, und sich dann weiter nicht um ihn bekümmert. Jetzt sah sie ihm gerade in die Augen, in diese machtvollen, zwingenden Augen, die alles in Besitz zu nehmen schienen, was sie überhaupt der Nähe des Anschauens für werth hielten.

„Ich bin spät gekommen und gehe nicht in die Gesellschaft, daher sind mir fast sämmtliche Anwesenden fremd; Sie würden mich verpflichten, wenn Sie mich mit Ihrem Nachbar bekannt machen wollten, meine Gnädigste!“

„Herr von Conventius – Professor Delmont.“

Die beiden Herren verneigten sich höflich gegen einander.

„Wir sind Leidensgenossen, Herr Professor,“ sagte Conventius verbindlich, „beide fremd noch in F., beide bemüht, festen Fuß zu fassen. Ich will hoffen, daß die Eindrücke, welche Sie bisher hier empfingen, ebenso freundlich und wohlthuend sind wie die meinigen.“

„Mir würde es schwer werden, irgend welche Eindrücke zu verzeichnen, denn bis zur Stunde habe ich hier noch gar keine empfangen.“

Dies „bis zur Stunde“ wurde ein wenig schärfer betont. Ueber das Haupt des jungen Mädchens hinweg trafen sich die Blicke der beiden Männer und blieben ein paar Sekunden in einander haften.

„Leben Sie so zurückgezogen?“ fragte Annie.

„Ganz und gar; es wird Ihnen vermuthlich als eine Sonderbarkeit erscheinen, daß ich nie Reisebekanntschaften mache, außer solchen allerflüchtigster Natur.“

„Das befremdet mich nicht so sehr. Wer jahrelang auf Reisen lebt wie Sie – es ist das einzige, was mir Herr Weyland über Ihr Leben zu sagen wußte – bei dem muß, so denke ich mir, der Sinn für Reisebekanntschaften sich allgemach abstumpfen und endlich ganz in dem einen Zweck, der die weiten Fahrten veranlaßte – in dem Beruf untergehen!“

„Sie haben ganz richtig geurtheilt: ich lebe nur meiner Kunst.“

„Weylands sprachen mir von einer Orientreise.“

„Ja – ich bin in Persien, Indien, Arabien gewesen, ... dann in Aegypten … dann ging’s quer durch Afrika zur Insel Madeira, wo ich wartete, bis ein Schiff kam, das mich nach Portugal herüberbrachte; von da nach Spanien, Frankreich – ein Stück Oberitalien und Schweiz – ein halbes Jahr in Ungarn und Oesterreich … nun, und das ist alles!“

Annie brach in ein lustiges Lachen aus.

„Wirklich? Also das ist alles! Ich sollte meinen, es wäre gerade genug! Wie einfältig ich mir vorkomme zwischen zwei so weitgereisten Herren – denn Herr von Conventius hat gleichfalls ein sehr schönes Stück Welt gesehen, ich aber kenne nur unsern Rhein, den Harz und ein Ausschnittchen der Alpen. Ach, und dabei bin ich so reisedurstig, daß ich manchmal denke, es befällt mich ein wahres Fieber. Meine Schwester will immer, ich solle mich einer befreundeten Familie anschließen und eine weite, schöne Reise unternehmen, aber sie selbst ist krank und könnte nicht mit mir kommen, und ich hab’ es bis jetzt nicht übers Herz bringen können, sie zu verlassen!“

Ihr Antlitz war jetzt Delmont voll zugewendet, Schönheit und Jugend leuchtete ihm daraus entgegen – über allem aber ein Zug von Seelengüte, der diesen Zügen erst den rechten Adel verlieh. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

„Also, meine Gnädigste,“ sagte in diesem Augenblick der Lieutenant von Conventius am andern Ende der Tafel zu seiner Dame, einer aufgeweckt aussehenden Blondine. „Sie wünschen von mir einigen Aufschluß über die Familie Derer von Conventius? Dies Vertrauen ehrt mich in der That, und ich entspreche Ihrem Wunsch um so lieber, als ich mir später die Freiheit zu nehmen gedenke, Sie um einen kleinen Gegendienst zu ersuchen. Soll ich Ihnen die ganze Stammtafel hersagen?“

„Um Gotteswillen!“ wehrte das Fräulein ab.

„Nun,“ begann der Lieutenant lachend, „daß unser Urahn, Reginald Convent, woraus später Conventius entstand, im zwölften Jahrhundert aus Schottland einwanderte und in Deutschland festen Fuß faßte, kann ich Ihnen nicht ersparen. Auf diesen alten Knaben sind wir nämlich sehr stolz, denn er hat viel für die spätern Geschlechter gethan, unter anderem ein feudales, altes Schloß – zu seiner Zeit war’s freilich ein neues – in Böhmen erbaut, das heute noch steht und dann und wann alle Sprößlinge der Familie, soweit man ihrer habhaft werden kann, in seinen Mauern versammelt. Auf Ihren Befehl, mein Fräulein, übergehe ich sämmtliche Nachkommen dieses Ehrenmannes bis zu dem älteren Bruder meines verstorbenen Vaters, Reginald von Conventius – in dieser Linie heißt jeder älteste Sohn Reginald – welcher Großgrundbesitzer in der Mark, Kammerherr Ihrer Hoheit der Prinzessin Mathilde, Ritter hoher Orden, mit einem Wort, ein echter Edelmann, eine Säule des Staats und ein vortrefflicher Unterthan ist. Er beging die Thorheit, sich in eine junge Dame zu verlieben, die ihm in allen Stücken ebenbürtig war, überdies eine blonde Schönheit von großem Reichthum … nur war sie … ich bitte Sie sehr, mich nicht mißzuverstehen, … sehr fromm! Sie werden mir sagen, das sei die holdeste Blüthe der Weiblichkeit – ich weiß das wohl, – aber doch! Hier hat sich diese Thatsache gerade nicht segensreich erwiesen. Die Gattin meines Onkels war mehr in Kirchen und Wohlthätigkeitsanstalten als daheim zu treffen, das gesellige Leben und Treiben war ihr ein Greuel, sie strebte aus aller Kraft, ihren Gatten demselben zu entziehen und zu ihrer Richtung zu bekehren. Er, seinerzeit ganz toll in sie verliebt und keiner Warnung guter Freunde, welche die hochgesteigerte Frömmigkeit der jungen Gräfin kannten, zugänglich, wollte von einer Aenderung seiner Lebensweise, von Buße und Bekehrung nicht das mindeste wissen, und das Ende vom Liede war, daß das Verhältniß vollständig erkaltete und jeder der beiden Eheleute seinen eigenen Weg einschlug. Ich bin der letzte, der das hübsch findet, aber dergleichen kommt leider oft im Leben vor und hat, außer für die zwei Betheiligten, weiter keine Folgen. Hier sollte es anders sein; ein einziges Kind, ein Sohn, Reginald, war dieser Ehe entsprossen, schön und klug, ein Prachtjunker, der ganze Stolz und die Hoffnung seines Vaters. Körper und Geist hielten gleichen Schritt bei der Entwicklung, glänzende Zeugnisse – Verbindungen – alter Name – alles, wie am Schnürchen! Der Alte, der seinerzeit ein berühmter Gardeoffizier gewesen war, flott und schneidig vom Wirbel bis zur Zehe, konnte die Zeit kaum abwarten, den Sohn in derselben Uniform zu sehen … allein wer beschreibt sein Entsetzen, als dieser Sohn ihm mit all der ruhigen Festigkeit, die seine Mutter ihrem Gatten stets gezeigt hatte, erklärte, er fühle nicht die mindeste Neigung für den Soldatenstand, dagegen eine leidenschaftliche Liebe für den Predigerberuf, weshalb er gedenke, Geistlicher zu werden. Zuerst hielt sein Vater dies für einen schlechten Witz und lachte darüber – aber das Lachen sollte ihm bald vergehen! Bitten, Drohungen, Vorstellungen, Wuthausbrüche, Thränen, das Massenaufgebot der ganzen Familie, Aussicht auf Fluch und Enterbung … alles das prallte ab an dem eisernen, unerschütterlichen Willen dieses damals blutjungen Menschen, der einfach erklärte, sein Beruf ginge ihn allein an, es sei eine tiefernste Sache damit, von der alles abhinge – er wisse genau, dies sei sein Beruf und kein anderer, und er müsse der inneren Stimme, die ihn dazu treibe, folgen, komme es wie es wolle, allen weltlichen Verhältnissen zum Trotz. Der Alte beschwor ihn, noch zu warten, erst zu reisen, die Welt zu sehen und kennenzulernen – der Sohn gab nach und reiste. Er schrieb gute, inhaltreiche Briefe, kam heim, drückte seiner sterbenden Mutter die Augen zu und verkündete dem in athemloser Spannung auf seinen Entschluß harrenden Vater ganz gelassen und in ehrerbietigster Haltung, daß sich an seinen Absichten, sich dem Berufe des Geistlichen zu widmen, auch nicht das Geringste geändert habe. Neue Scenen – neue Wuthausbrüche – Jammer über Jammer – Familienräthe – Elend und Thränen … nun, Sie sehen ja, mein gnädiges Fräulein, wozu das alles bei meinem Vetter Reginald geführt hat: da sitzt er am andern Ende der Tafel als wohlbestallter Prediger an der St. Lukaskirche!“

Das junge Mädchen hatte in großer Spannung zugehört. Jetzt bog sie den Kopf weit vor, um den schönen, blonden Helden dieser Erzählung durch das Gewirr der Flaschen, Gläser, Blumen und Silbersachen sehen zu können.

„Nun – und sein Vater?“ fragte sie dann.

Der Offizier zuckte die Achseln.

„Was will er machen? Den einzigen Sohn, der ihm sonst nie eine trübe Stunde bereitet hat, nur um deswillen zu verstoßen und zu enterben, weil er statt Offizier Pfarrer geworden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 586. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_586.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)