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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Fünfundzwanzig Jahre! Das ist doch nicht möglich! Wie alt können Sie denn damals gewesen sein?“

„Nun – vielleicht dreizehn- oder vierzehnjährig – dann hat der Tanz für mich aufgehört!“

Es klang so herb, daß Annie fast erschreckt ihm ins Antlitz blickte. Sie begrüßte es in diesem Augenblicke als einen willkommenen Ausweg, daß hinter ihr der aufwartende Diener mit einer Schale Eis erschien. „Wahrhaftig, jetzt geht schon der Nachtisch herum! Sind wir wirklich schon mit dem ganzen Essen fertig?“ sagte sie, um rasch über die Verstimmung hinüberzuleiten, welche aus dem letzten Worte Delmonts gesprochen hatte.

Sie hob ihr gefülltes Champagnerglas gegen Frau Hedwig, die gerade zu ihr herübersah, mit einem strahlenden Aufblick, der sagen wollte: „Ich bin Dir dankbar, Liebste, und unterhalte mich vortrefflich!“

Die ältere Freundin verstand diesen Blick, sie lächelte und nickte wieder, aber sie unterdrückte einen Seufzer, als sie ihr Glas an die Lippen setzte und Annie Gerold zutrank.




2.

Vor dem Geroldschen Hause, einem stattlichen Gebäude älterer Zeit, reich mit Schnitzwerk und alterthümlichen Zieraten versehen, hielt ein Miethwagen.

Sofort öffnete sich eines der Fenster im Oberstock und eine Stimme fragte in die Nacht hinaus: „Sind Sie das, Fräulein?“

„Ja, Elise! Ist denn der Lamprecht nicht da?“

„Gewiß, er bastelt ja schon unten am Hausthor herum, das Schloß ist wieder ’mal verquollen!“

Besagtes Hausthor wich jetzt mit vernehmlichem Geknarre zurück, und in seinem Rahmen erschien die Gestalt eines grauhaarigen Mannes in schlichter, dunkler Dienertracht, der ein hellbrennendes Laternchen in der Hand hielt und vorsichtig über das schlüpfrige Straßenpflaster schritt. Der Wind hatte umgesetzt, vom sternlosen, wolkenverhangenen Himmel fielen große Tropfen, die Luft war eigenthümlich still und weich.

„Hier, nimm meine Cotillonsträuße, lieber Lamprecht – bitte, laß keinen fallen, acht müssen es sein! Da ist mein Fächer – die Tanzkarte – das Menu – jetzt komme ich selber! Aha! Hab’ ich’s nicht gesagt: wir bekommen Frühling?“

Annie blieb mitten auf der dunklen, nassen Straße stehen, warf den Kopf hintenüber und sah wie verzaubert zu dem lichtlosen Nachthimmel empor.

„Um Gotteswillen, Fräulein Anniechen! Wollen Sie sich den Tod holen? Hier auf der stichdunklen Straße, im zerlassenen Schnee, Punkt Glock’ drei Uhr!“

Eben holte eine Kirchenuhr in unmittelbarer Nähe zu drei tiefen, dröhnenden Schlägen aus.

Mit einem hörbaren Athmen wandte sich die junge Dame um.

„Komme schon! Dir ist auch nicht wohl, wenn Du nicht mit mir schelten kannst! So – nun leise, leise! Halt’ meine Sträußchen fest! Da wären wir drinnen! Hast Du schon Licht für mich angezündet im Wohnzimmer?“

„Was sich Fräulein Anniechen bloß denken! Fräulein Thekla sind ja noch auf und warten –“

„Meine Schwester? Was? Gar nicht zu Bett gewesen?“

„Gar nicht!“

Annies Brust hob sich in einem leisen Seufzer.

„Dann hat sie gewiß wieder böse Schmerzen – und ich – und ich – so, Lamprecht, nun geh’, da ist der Mantel, die Tücher! Gieb die Blumen her – gut’ Nacht, grüß’ Deine Frau! Was möchtest Du noch haben?“

„Haben?“ murmelte der Graukopf, der sich Annies Mantel über den Arm legte und mit einem halb bewundernden, halb vorwurfsvollen Blick das reizende junge Geschöpf in dem weißen Kleide musterte. „Nichts will ich haben! Aber daß ich nicht ’mal zu hören bekomme, wie es denn nun gewesen ist bei Weylands, daß ich doch der Agathe sagen kann: ‚sie hat sich amüsirt‘ – oder: ‚sie hat sich nicht‘ –“

„Ach so! Nimm mir’s nicht übel, ich dachte an Thea! Sag’ Deiner Frau, es war wunderschön; es war – ich – morgen, morgen! Gute Nacht!“

Sie gab dem Alten mit einem freundlichen Nicken den Abschied, dann schlich sie auf den Zehen nach der Thür des Nebenzimmers, um zu lauschen.

„Vögelchen – Du?“ kam eine müde Stimme von drinnen.

„Ja, liebste Thea!“ Und wirklich so leicht und rasch wie ein Vogel huschte das junge Mädchen ins Zimmer. – Dieses, von den Damen „die Wohnstube“ genannt, war trotz seiner Größe und Höhe ein äußerst behaglicher Raum mit seiner dunklen Eichentäfelung, welche die halben Wände bedeckte, mit den breiten, tiefen Fensternischen, in denen, um ein paar Stufen erhöht, Näh- und Arbeitstische, sowie einige Blumenständer mit schönen Blatt- und Topfpflanzen Platz hatten, mit der prachtvollen, alterthümlichen „Kredenz“, in deren Fächern es von kostbarem Porzellan und Krystall, von Silber- und Glassachen glitzerte, mit seinen schweren, gediegenen Möbeln, die von ehrwürdigen Zeiten redeten. In der Mitte des Zimmers stand ein großer Eichentisch auf massiven Kugelfüßen, drüber hing eine große Ampel an sechs Kupferketten. Sie brannte sehr hell und zeichnete in das ernste, dunkel gehaltene Gemach eine helle Lichtinsel hinein. Auch den hohen, breiten, mit tiefrothen Polstern belegten Lehnsessel traf voller Lampenschimmer, ebenso das Leidensgesicht, das in den Kissen lag, wachsweiß, mit bläulich gefärbten Augenlidern, glanzlosen schwarzen Haaren und übernatürlich großen Augen. Wohl schienen diese Augen, wie sie klug und lebhaft aufblickten, von keinem Schmerz erzählen zu wollen – desto mehr that dies der Mund, der beständig von einem gequälten Zug umgeben war. Eine durchsichtige Hand lag auf der weichen türkischen Decke, die über die Kniee der Kranken gebreitet war, neben dem Sessel lehnte ein hoher Krückstock mit gepolstertem Griff.

Annie warf all ihre Blumen auf den Tisch und beugte sich über das blasse Gesicht, das sie mit ihren beiden jungen warmen Händen streichelte.

„Thea, Thea! Da bin ich wieder! Wie geht Dir’s?“

„Kleiner Schelm, Du willst jetzt natürlich, ich soll sagen: Gut, da ich Dich wieder habe! Aber das kann ich doch nicht – Du hast Dir ja auch ein für allemal feierlich solche Rücksichtslügen verbeten! Wie soll es mir gehen? Es war recht schlimm eine Zeitlang, die Schmerzen sehr arg, danach führten die Nerven einen ganz tollen Tanz auf, aber die letzten Tropfen, die Heimbucher mir verschrieben hat, thaten mir wirklich gut, ich konnte doch wieder lesen, und Du weißt, dann sind wir übern Berg; mir war die letzten Stunden ganz leidlich zumuthe, nur an Schlaf wäre ohnehin kein Gedanke gewesen, darum blieb ich lieber auf. So! Dies leidige Thema wäre abgethan! Jetzt kommt unser Vergnügen! Du siehst ja keine Spur müde aus, und ich kenne Dich, Du mußt Dich immer erst ausplaudern. Also setz’ Dich dahin und erzähle!“

„Das Neueste, Thea! Wir bekommen Frühling! In allem Ernst!“

„Wirklich?“ – In den klugen Augen wachte etwas Schwermüthiges auf, das aber rasch verflog. „Nun aber – Deinen Bericht!“

„Zuerst eine Frage: Findest Du, Thea – aber Du mußt ganz, ganz aufrichtig sein wie immer! – daß ich heute … daß ich heute … Du brauchst nicht zu lachen – besonders hübsch aussehe? Hübscher als sonst?“

Thekla blickte verwundert auf. Ihre junge Schwester stand vor ihr; schlank hob sich die weiße Lichtgestalt von dem dunklen Hintergrund des Eichengetäfels ab, die schönen Hände spielten mechanisch mit den über den Tisch hingestreuten Blumen, die Augen, in denen eine seltsam lebhafte Erwartung glänzte, hingen in selbstvergessener Spannung an Theklas Antlitz.

Diese überflog das reizvolle Bild mit ihrem prüfenden Blick.

„Ja!“ sagte sie dann kurzweg.

Ein halb unterdrückter Jubellaut antwortete ihr. „Also wirklich! Siehst Du, das freut mich aber!“

„Ja – ich sehe! Und warum freut’s Dich so besonders?“

„Ach – nun – weißt Du, ich bin heute ein bißchen sehr gefeiert worden – noch mehr als früher! Die beiden interessantesten Herren von der ganzen Gesellschaft hat mir Hedwig zu Tischnachbarn gegeben, und Du kannst Dir denken, da hieß es natürlich wieder gleich, ich hätte sie angelockt, und die anderen Mädchen besprachen und beneideten mich – das natürlich machte mir keine Freude …“

„Was also sonst?“

Annie wurde verlegen und senkte die seidenen Wimpern.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_588.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)