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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Da!, Ein paar weiße Fliederdolden und zwei kleine Veilchensträuße blieben in seiner Rechten hängen, und nun brachte er sie, wohl in Zerstreuung, an seine Lippen. Der Duft war schwach, kaum merklich, aber ein träumerisches Lächeln ging über das Gesicht des Mannes hin und blieb in den Augen stehen. – Vor ein paar Stunden, da war er, ziel- und zwecklos durch die geschmückten Räume des Weylandschen Hauses irrend, wie getrieben von einer inneren Unruhe, wieder in den Tanzsaal gekommen, wo ein gemietheter Spieler an dem schönen Blüthnerschen Flügel saß und in harten, dröhnenden, unfehlbar taktmäßigen Rhythmen einen Wiener Walzer herunterdrosch. Die Jugend tanzte Cotillon, und er, Professor Delmont, war immer wieder um diesen Tanzsaal herumgeirrt und war eingetreten, um zuzuschauen, und wieder fortgegangen, weil es ihm widerwärtig war, zu sehen, wie so viele Arme – meist waren es uniformirte – sich um die eine, begehrteste Tänzerin legten und sie immer von neuem lächeln und sich verneigen und danken mußte.

Und da war er mit einem raschen Entschluß zu der hübschen, hoch emporgethürmten Pyramide mit den Blumensträußen getreten – was kümmerte es ihn, ob die Zeit dazu jetzt schon war oder nicht! – und hatte mit raschem Griff dasjenige, welches ihm von den niedlichen Sträußchen das schönste schien, herausgesucht, war quer durch den Saal auf sie, die mit ihrem flotten Tänzer, dem schlanken Ulanenlieutenant, lachte, zugegangen und hatte gesagt: „Wenn ich auch kein geübter Tänzer bin – das Recht jedes eingeladenen Gastes, mir hier ein Sträußchen zu holen, darf ich mir doch nicht nehmen lassen. Wollen Sie diese Blumen von mir annehmen und mir dafür eine Extratour schenken?“

Und sie, mit einem frohen, überraschten Lächeln zu ihm aufsehend, meinte: „Ja – walzen Sie denn? Ich dachte, Sie thäten das überhaupt nicht!“

„Sonst nicht – seit vielen Jahren nicht – wollen Sie aber nicht die Ausnahme gelten lassen?“

„Mit Freuden!“

Und er, der das Tanzen einen schreienden Unsinn genannt, er, der seit undenklichen Zeiten keinen Fuß dazu gerührt hatte – da flog er über das glatte Parkett hin, seine schöne, weißgekleidete Tänzerin im Arm. Er sah auf das glänzende, nußbraune Haar herab, dessen gefiederte Löckchen unter dem Hauch seines Mundes leise erbebten. Wie sie reizend war, auch beim Tanz! Ihm fiel eine Strophe aus einem Gedicht ein, das er einmal irgendwo gelesen:

„Wie eine Blume lag sie mir im Arm,
Die sich im Abendwinde wiegt und schmiegt!“

Zögernd nur gab er sie frei; er wurde unwillig, wenn er dachte, sie sollte den langen Cotillon hindurch mit diesem Ulanen-Offizier, der so durchtriebene Augen machen und so herzlich lachen konnte, vereint sein. Und sie lachte gern, hatte ein so liebliches, goldtöniges Stimmchen, das ansteckend wirke! Hatte sie doch ihn, der das Lachen fast verlernt zu haben meinte, mit ihrer kindlichen Fröhlichkeit angesteckt, daß er sich selbst kaum wiedererkannte! Fast reute es ihn, nicht den ganzen „Unsinn“, womit er den Cotillon meinte, als ihr Tänzer mitgemacht zu haben! Lächerlich! Er und Cotillon tanzen! Vor kleinen koketten Gänschen in die Kniee sinken und nach emporgeworfenen Taschentüchern springen und sich Schneebälle von Papierschnitzeln ins Gesicht werfen lassen und was sonst der albernen Geschmacklosigkeiten mehr waren; er wäre sich reif fürs Narrenhaus vorgekommen, er hätte sich das selbst kaum jemals verzeihen können. Nun, der lustige Ulanenlieutenant hatte auch herzlich wenig von seiner Tänzerin, sie wurde ihm jede Minute entführt, und er sah ihr jedesmal ganz kläglich nach! –

Allgemach war auch der Cotillon beendet worden, die geplünderte Pyramide wurde von einem Bedienten hinausgetragen, die jungen Damen zerstreuten sich hierhin, dorthin, es wurden ihrer immer weniger, – die Herren setzten sich noch im Rauchzimmer beim Bier fest. Delmont stand, eine Cigarette zwischen den Lippen, an der Thür, die zum Hausflur führte und die, der in den Zimmern herrschenden Hitze halber, fast ganz geöffnet war. Eine Dame nach der andern kam die mit Decken belegte Treppe, welche nach der Garderobe führte, herab, in Mantel und Kappe vermummt, auf trippelnden Füßchen, schwatzend, lachend, – endlich auch sie, das süße, junge Gesicht von einem weißflockigen Seidenshawl wie von einer Sommerwolke umhüllt, beide Hände voller Blumen, aber nicht plaudernd und scherzend, sondern ernsthaft vor sich hinschauend, ganz in Gedanken! Sie schrak heftig zusammen, als er ihr „Gute Nacht“ wünschte, und antwortete sichtlich befangen. Dann war sie fort, und die ganze übrige Gesellschaft dünkte ihm unglaublich gleichgültig – er drückte dem Gastgeber die Hand, sagte der Hausfrau ein paar verbindliche Worte und ging hinaus in die dunkle und stille Märznacht, die urplötzlich einen Frühlingshauch mit sich brachte – einen ganz seltsamen, herzbeklemmenden Frühlingshauch. –

„Ja, ja,“ fing der Professor halblaut an, und Ego hob den Kopf und hörte zu, „gesteh’ dir’s nur ehrlich: es ist so! Hilft nichts, es mit einem andern Namen nennen zu wollen! Hast oft gefürchtet, es könnte noch einmal so kommen – nun ist’s mit einem Mal da!“ – Seine Stimme verlor sich in ein undeutliches Gemurmel, eine Zeitlang war in dem großen, weiten Raum nur das trauliche Schwatzen der Flammen im Kamin und das feine Singen des Gases zu vernehmen. „Wir haben kein Recht auf sie, Ego! Hörst Du? Kein Recht überhaupt auf das, was man Glück und Liebe nennt … wir nicht!“ Ego sah mit treuen, verständnißvollen Augen in die aufgeregten Züge seines Herrn – er hatte sich halb erhoben und stützte seinen Kopf liebkosend gegen Delmonts Knie. „Wenn die Leute das hörten, würden sie sagen: wozu brauchst du auch Glück und Liebe? Du hast ja deine Kunst, die kann dir Ersatz sein für alles! Man darf nicht zuviel vom Schicksal fordern! Meine Kunst, jawohl! Wir haben uns nicht ganz umsonst glühend um sie beworben, uns halbtodt um sie gesehnt! Sie giebt uns Begeisterung – Trost – und Brot – Ehre – Ansehen – aber auch Glück, volles, wirkliches Menschenglück, Ego? – aber auch Liebe?“

Des Professors Hand ruhte jetzt auf dem Kopf des Hundes. Er hatte sich vorgeneigt und starrte in das Feuer. Immer hatte er das geliebt – eine seiner frühesten Rückerinnerungen galt den Augenblicken, da er als ein kleines Knäbchen vor der halboffenen Ofenthür gekauert und die spielenden Flammen beobachtet hatte … da waren ihm allerlei verworrene Gedanken gekommen … Bilder, wie es sein müßte, wenn er erst groß und berühmt sein würde und ein Mann – – jetzt war das alles eingetroffen, er saß da, mit Gold, Ehren und Ruhm überhäuft, er war an Fürstenhöfen empfangen und von Künstlern ausgezeichnet worden, zu denen er als Jüngling nur in scheuer Bewunderung aufzublicken gewagt hatte, – – in seinem hohen, weiten Prachtgemach saß er da, ein Künstler von Gottes Gnaden, ein Mann, der sich aus eigener Kraft zu der hochragenden Stufe, auf der er stand, emporgeschwungen hatte; es umgaben ihn die Meisterwerke seiner Hand – Schönheit, wohin das Auge blickte, – aber er war einsam, kein häusliches Glück blühte ihm, kein leichter, weiblicher Schritt, kein herziges Kinderlachen tönte durch den hallenden Raum, nur die Flammen knisterten, und in ihnen zeigte sich ihm ein Bild, ein grausiges Bild. So oft er auch schon gewähnt, es vergessen zu können, es stieg immer wieder vor ihm auf, um ihn mit bangem Entsetzen zu erfüllen, das Bild einer alten Schuld, das ihn seit seiner Jugend von Land zu Land jagte, ruhelos, friedlos, das ihn trotz aller seiner Erfolge zu keinem Lebensgenuß kommen ließ, ihm den gefüllten Becher vom Munde zog.

Ein Frösteln überlief ihn; er wandte sich rückwärts, wo auf einem breiten Gerüst in der Tiefe des Ateliers sein neuestes Werk, an dem er noch arbeitete, aufgestellt war: Karawane bei Kufara in der Libyschen Wüste.

Wohl nur ein Künstler vom Schlage Delmonts, ein Maler, der sich durch seine geniale Auffassung und seine unvergleichlichen Beleuchtungseffekte Weltruhm erworben hatte, konnte es wagen, ein Bild von dieser Ausdehnung mit verhältnißmäßig so unbedeutender Staffage zu schaffen. Denn die Karawane war Nebensache. So lebensvoll auch die Gruppe der Kameltreiber, der in weite, weiße Mäntel gehüllten Europäer, der braunen Araber anzusehen war, wie sie geschäftig nach längerer Rast zum Aufbruch rüsteten, während die Kamele noch halb aufgezäumt am Boden lagen, – die Hauptsache war doch die Wüste, die sich todt und kahl in weißflimmerndem Grau erstreckte, weit, unabsehbar weit, baumlos, strauchlos, eine unendliche Einöde. Am äußersten Rande des Horizonts zuckte es fahl röthlich auf, eine erste Ankündigung der Sonne, über dem ganzen Bilde aber lag ein blasser Dämmerschein, ein seltsam unirdisches Halblicht, das die Menschen wie Schatten und die hingedehnte Weite doppelt trostlos erscheinen ließ.

Auch Ego hatte sich zurückgedreht und musterte das Wüstenbild und darauf seinen Herrn, als wollte er sagen: ich erinnere mich!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 615. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_615.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)