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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Nachdem seine Scheidung von Susanne Ericius gerichtlich vollzogen war, hatte Graf Utzlar, im Besitz der nicht unbedeutenden Abfindungssumme, die ihm der Prozeß eingetragen, zunächst das Leben in vollen Zügen genossen. Daß seine neuen Heirathspläne an der Zurückhaltung der adligen wie der bürgerlichen Gesellschaft scheiterten, machte ihm wenig Verdruß. An guten Freunden, die seine Orgien theilten, fehlte es ihm trotzdem nicht; warum sollte er, kaum erst von einem lästigen Joch befreit, sich gleich wieder an eine Kette, und wär’s auch eine goldene, schmieden? Dazu war’s noch Zeit, wenn seine Mittel zu Ende gingen. Wenn ihm die spießbürgerliche Gesellschaft hier den Rücken kehrte, was lag daran? Von ihr hatte er so wie so genug, die Welt war groß und die Menschheit nicht überall von so kleinlichen Vorurtheilen befangen wie im engeren Vaterland. Er ging auf Reisen, und bald sprach man an den glänzendsten Sammelpunkten internationaler Geselligkeit von der Verschwendung und den galanten Abenteuern des tollen deutschen Grafen. Die Heirathsgedanken hatte er darüber ganz vergessen, es war ja noch Zeit! Allein einem Leben, wie es Graf Utzlar führte, hätten auch weit bedeutendere Mittel als die, welche er besaß, auf die Dauer nicht genügt; um die immer größer werdenden Lücken zu decken, griff er zum Spiel. Eine Zeitlang gewährte sich dieses Auskunftsmittel aufs trefflichste, die Glücksgöttin zeigte sich ihm über die Maßen gewogen, um sich sodann, wie das ihre Gewohnheit ist, ebenso hartnäckig von ihm abzuwenden, als sie seiner allzu kühnen Werbung satt geworden war; und schneller, als er es je vermuthet, kam der Augenblick, wo Graf Utzlar bleich, mit nervös zuckenden Gesichtsmuskeln an dem grünen Tisch vor den letzten Banknoten stand und mit starrem Blick den Sprüngen der kleinen Kugel folgte, von welcher es abhing, ob er im nächsten Augenblick ein Bettler wurde.

Er war es schon geraume Zeit, als er noch immer in derselben Stellung verharrte. Die kleine Kugel hatte ihren Kreislauf unzählige Male begonnen und vollendet, und von ihren Launen hatte er jetzt, da er das grüne Tuch nur mehr mit gedachten Einsätzen belegte, nicht das geringste mehr zu befürchten. Der Croupier mußte ihn schließlich darauf aufmerksam machen, daß er in solch passiver Rolle den andern Spielern im Wege stehe. Schwankenden Schritts wie einer, der eben aus einem wüsten Traume erwacht ist, verließ er den Saal. Draußen begrüßte ihn das bunte, schwirrende Leben, seine Freunde und Freundinnen gingen oder fuhren in schimmernden Karossen an ihm vorüber, sie kannten ihn nicht oder grüßten ihn nur flüchtig; die er anreden wollte, wichen ihm aus.

Jetzt wäre es Zeit gewesen, aber jetzt war es zu spät. Der Graf hatte jetzt anderes zu thun, als ans Heirathen zu denken. Zunächst machte er alles, was er noch an Kostbarkeiten besaß – und es war nicht mehr viel – zu Geld, um dieses der kleinen Kugel, die lustig, unbarmherzig darüber wegsprang, in den Weg zu werfen. Dann dachte er ernstlich daran, allen ferneren Launen des Zufalls mittels einer anderen kleinen Kugel ein Ende zu machen. Er stand vor dem Laden eines Waffenhändlers, in den Anblick der dort ausgestellten Ware vertieft, als ihm ein älterer, sorgfältig gekleideter Herr, der ihm längst, ohne daß Utzlar es bemerkt hatte, gefolgt war, sachte von hinten auf die Schulter klopfte und dabei mit sanfter, flüsternder Stimme die Worte sprach: „Nicht hier, Herr Graf!“

Als Utzlar sich erschrocken umwandte, lüftete jener mit einer höflichen Verbeugung den Hut und fragte, indem er eine reich gefüllte Banknotentasche hervorzog, in derselben artigen Weise: „Mit welcher Summe kann ich Ihnen dienen?“

Utzlar, der, durch den Undank seiner Freunde verbittert, allen Glauben an die Uneigennützigkeit der Menschen verloren hatte, war von dieser Frage des ihm völlig Unbekannten aufs höchste überrascht. Die Todesgedanken, denen er sich eben noch hingegeben hatte, schwanden beim Anblick der gefüllten Börse wie Nebel vor der Sonne.

„Wie, Sie wollten?“ rief er freudig erstaunt.

„Unter einer Bedingung, Herr Graf!“ erwiderte der Fremde.

„Und die wäre?“ fragte Utzlar hastig. Er war im voraus bereit, jede zu erfüllen, die der Herr an ihn stellen würde, sofern er ihn nur instand setzte, den Kampf mit der kleinen Kugel aufs neue aufzunehmen.

„Daß Sie unverzüglich von hier abreisen, um zunächst wenigstens nicht wiederzukehren,“ war die nachdrücklich betonte Antwort des Unbekannten.

„Was berechtigt Sie, mein Herr, diese Forderung an mich zu stellen?“ brauste nun Graf Utzlar auf.

„Ihr eigener Vortheil, die genaueste Kenntniß Ihrer dermaligen Verhältnisse,“ erwiderte der andere, ohne sich im geringsten durch die Heftigkeit des Grafen beirren zu lassen. „Ich weiß, daß Sie keinen Franken mehr besitzen, noch von irgend welcher Seite in absehbarer Zeit einen nennenswerthen Zuschuß zu erwarten haben. Was wollen Sie hier, Herr Graf? Der Anblick des Spiels, an dem Sie sich zu betheiligen nicht mehr in der Lage sind, kann Sie nur aufregen und zu Entschlüssen führen, die ich aufs tiefste bedauern würde. Ein längerer Aufenthalt würde überdies unangenehme Auseinandersetzungen mit dem Wirth Ihres Gasthofs zur Folge haben, denen ich durch Bezahlung Ihrer Rechnung und Einlösung Ihrer Koffer vorzubeugen bereit bin, sofern Sie meinem wohlgemeinten Rath folgen wollen. Sie sind Fremder, Herr Graf, einer alten, hochangesehenen Familie entstammt, es kann Ihnen bei Ihren Beziehungen in der Heimath nicht schwer fallen, die Verlegenheit Ihrer augenblicklichen Lage zu überwinden, und wenn Sie in einer späteren Saison wiederkehren, um den jetzt so ungleichen Kampf gegen die Bank, deren Vertreter ich bin, mit neuen Kräften zu beginnen, so werden Sie mir für meinen guten Rath danken, und ich werde es vielleicht bereuen, Ihnen denselben gegeben zu haben. Was ich Ihnen sonst biete, ist, soweit es eben in unserer Macht steht, eine Entschädigung für die großen Summen, die Sie an uns verloren haben, zu gewähren. Und nun bitte ich Sie, mir das Ziel Ihrer Reise zu nennen, damit ich Ihr Gepäck rechtzeitig zur Bahn schaffen lassen und Ihnen das Billet lösen kann. Darf ich bitten, wohin?“

„Nach Berlin,“ erwiderte Utzlar; er wußte selbst nicht, warum gerade dorthin, er sagte es mehr aus einem unbewußten Triebe als aus Ueberlegung, er fühlte nur, daß jener Mann einen Einfluß auf ihn übte, ähnlich dem der kleinen Kugel, in deren Dienst er stand; daß er ihm unbedingt gehorchen müsse. Erst während der Fahrt kam er zum vollen beschämenden Bewußtsein dessen, was mit ihm vorgegangen war.

So kehrte Graf Utzlar in die Heimath zurück, und nun begann für ihn jener Kampf ums Dasein, der ihn nach verschiedenen Niederlagen nach Kopenhagen und als einen Hilfesuchenden zu Tromholt geführt hatte.

Aber – und das wußte zur Stunde selbst Tromholt nicht – die eigene Noth allein war es nicht, die Utzlar zu diesem für seine Besserung und sittliche Läuterung entscheidenden Schritt getrieben hatte.

Nach dem Zusammenbruch seines letzten Unternehmens suchte ihn ein schwerer Rückfall in jene Krankheit heim, die schon den Verlust seiner Stellung als Versicherungsagent herbeigeführt hatte und die im Grunde nur eine Folge des jähen Wechsels seiner Lebensverhältnisse gewesen war. Während er nun so im Spital lag und den Tod als eine Erlösung herbeisehnte, hatte sich ein mitleidiges Geschöpf seiner erbarmt und ihn durch treue, selbstlose Liebe und Pflege dem Leben wiedergegeben. Es war dies eine arme Nähterin, deren Bekanntschaft er in der ersten Zeit seines Aufenthalts in Kopenhagen gemacht hatte, die ihn liebte, aber seinen Bewerbungen, von deren Ehrlichkeit sie nicht überzeugt war, stets widerstanden hatte, und die nun, da er hilflos und von allen verlassen auf dem Krankenbett lag, nicht nur ihre Ersparnisse opferte, sondern auch ihren bisher unbescholtenen Ruf zu seiner Rettung in die Schanze schlug. Und als Graf Utzlar, nach schweren Fieberträumen zum ersten Male wieder zur Besinnung gelangt, die Augen aufschlug, da war das erste, was sein Blick traf, die Gestalt jenes Mädchens, die einem Schutzengel gleich, über sein Lager gebeugt, dasaß. Nicht anders erschien sie dem Kranken in den nun stets länger währenden Pausen, als das Fieber von ihm wich und er kraftlos, keines Wortes mächtig, ihre Gestalt vor sich sah. Wie ihm nun aber bei fortschreitender Genesung die ganze Größe des Opfers zum Bewußtsein kam, das Agnes ihm gebracht hatte, da durchdrang ihn, vielleicht zum ersten Male, das Gefühl einer Dankesschuld, die einzulösen fortan der einzige Zweck seines neugewonnenen Lebens sein sollte. Nun wußte er, daß dieses Leben eine Pflicht für ihn sei, und aus der anfangs nur flüchtigen Neigung wurde eine tiefe, starke Liebe.

Auf dieser Grundlage allein konnte sich eine so wesentliche Wandlung, wie sie mit Utzlar vorgegangen war, mit Gewähr für die Dauer vollziehen, und seine Liebe war es auch, die ihm den Gang zu Tromholt, den schwersten, den er je gethan, damals wie heute ermöglichte. Wozu ihn die eigene Noth nie vermocht hätte, das

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