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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

was er thun solle. Er habe schon nicht übel Lust gehabt, Snarre die ganze Geschichte kurzweg vor die Füße zu werfen, und würde seine Absicht wohl auch ausgeführt haben, wenn nicht Biancas Zustand ihm Rücksicht auferlegt hätte. Limforden sei ihm nachgerade verhaßt. Den Gedanken, dort in irgend einer Weise ferner thätig zu sein, habe er nunmehr endgültig aufgegeben. Zum Schluß hieß es, aus Kiel seien Nachrichten eingelaufen, denen zufolge man jeden Tag die Verlobung von Dina Ericius mit Snarre erwarte. Snarre würde das Mädchen im höchsten Grade in seinem Rufe schädigen, wenn er nicht Ernst machte. „Aber passen Sie auf, Tromholt! Im letzten Augenblick besinnt sich die mit ihrem lächerlichen Hochmuth weit über Gott und Menschen stehende Erlaucht doch und läßt das bürgerliche Fräulein sitzen!“

Am Abend desselben Tages begab sich Tromholt, den diese Mittheilungen tief erregten und beschäftigten, zur Ablösung seiner schweren Gedanken in ein Weinhaus, wo er Freunde zu treffen und das er häufiger zu besuchen pflegte; gegen elf Uhr kehrte er nach Hause zurück.

Er fand die Mädchen nicht mehr vor, in Ingeborgs Zimmer aber war Licht, und er nahm deshalb an, daß die Wärterin bei der Kranken wache.

Wiederholt betrat er das Speisezimmer, an das zur Linken im gleichen Flügel Ingeborgs Wohn- und Schlafzimmer stießen, und horchte, ob sich nebenan etwas rühre. Dann begab er sich in seine zur Rechten belegenen eigenen Räume, ließ aber absichtlich die Thür nach dem Speisezimmer offen, um für den Nothfall bei der Hand zu sein.

Da seine Gedanken noch allzu lebendig waren, entzündete er eine Lampe und ließ sich in einem Lehnstuhl nieder. Er nahm eine Zeitung zur Hand und vertiefte sich in ihren Inhalt; endlich aber überfiel ihn doch die Müdigkeit, und zwar solchergestalt, daß er in dem Sessel fest einschlief.

Wohl eine Stunde mochte er so geruht haben, als er plötzlich durch ein Geräusch aufgeweckt ward. Rasch sprang er empor, rieb sich die Augen und schaute um sich. Seine Blicke richteten sich unwillkürlich auf das Speisegemach, woher das Geräusch gekommen war, und da sah er zu seinem Schrecken – ja, es war keine Täuschung – aus dem Dunkel hervorschimmernd eine weiße Gestalt auf der Erde liegen.

Im Nu ergriff er die Lampe und eilte hinein.

Vor ihm, nahe dem Speisetisch neben einem Stuhl, lag lang ausgestreckt Ingeborg Elbe. Offenbar hatte sie sich mit einer bestimmten Absicht von ihrem Lager erhoben und war hier, von Schwäche überwältigt, zusammengesunken.

Tromholt ließ sich zunächst, ohne nach der Wärterin zu rufen, zu ihr herab, hob und stützte sie und horchte voll Sorge und Unruhe nach dem Schlage ihres Herzens. Noch schien geringes Leben in ihr zu sein, und wirklich öffnete sie in diesem Augenblick die Lider, sah ihn mit tiefen und angstvoll flehenden Blicken an und flüsterte seinen Namen. Während er gütig und zärtlich auf sie einsprach drückte sie ihm ein kleines Packet in die Hand und flüsterte mit sterbender Stimme:

„Noch einmal innigsten Dank für alles, alles Gute! – Kein Mensch, ein Gott waren Sie für die arme Ingeborg. – Dieses hier – Briefe von Dina Ericius, lesen Sie – sie werden Ihnen das Glück bringen, ich weiß es, das Sie bisher entbehrten, und dieser Gedanke erleichtert mir den Tod. – Leben Sie wohl, mein einziger unvergleichlicher Freund!“ Und von neuem schlossen sich ihre Lider – wie todt fiel sie zurück.

„Mein Kind, mein armes, liebes Mädchen!“ rief Tromholt in ungeheurem Seelenschmerz. Er hoffte, daß vielleicht doch nur eine neue Ohnmacht sie überfallen habe, und suchte sie höher aufzurichten. Als aber alle Versuche, sie ins Leben zurückzurufen, ohne Erfolg blieben, da ließ er Ingeborg sanft zurückgleiten und eilte ins Schlafgemach. Er fand hier zu seiner Ueberraschung keine Wärterin, sondern Hansine, die in einem Stuhl eingeschlafen war und erst bei wiederholtem Rütteln zu sich kam.

Aber als Tromholt mit ihr zurückkehrte, war alles vorüber.

Tromholt und Hansine hoben die Entschlafene empor, betteten sie auf ihr Lager und stellten brennende Kerzen ringsum. Nachdem das alles geschehen, hieß der Mann die Magd sich entfernen. Er aber saß bis zum Morgengrauen bei der Entschlafenen, und ruhelos irrten die Gedanken durch sein sorgenschweres Haupt. Er dachte, was ihm Ingeborg Elbe gewesen war, wie sie an ihm bis zum letzten Athemzug in treuer, aufopfernder Liebe gehangen hatte, und es ergriff ihn ein bitteres Gefühl der Trauer darüber, daß es ihm nicht gegeben war, diese Liebe so zu erwidern, wie sie es verdient hätte.

Seltsames Geschick! Für sie, deren stumme Qual er täglich mit ansah, die ihm mit ihrer ganzen Seele ergeben war, konnte er nichts anderes als Gefühle warmer Freundschaft finden, während sein Herz mit allen Fasern an der hing, die ihn nicht lieben konnte, die ihn verschmäht hatte. Nun fiel sein Blick auf das Packet Briefe, das er noch immer in der Hand hielt, Ingeborgs letztes Vermächtniß an ihn. Was mochten sie enthalten? – Mechanisch griff er einen aus dem Bündel heraus und las, erst nur mit halbem Verständniß und dann mit wachsendem Interesse, während ein Zug tiefster Rührung über sein Gesicht flog. Der Brief lautete:

„Meine einzige Ingeborg!

Draußen scheint die Sonne so warm und herrlich, als ob ihr vom Schöpfer eine Belohnung für regen Diensteifer ausgesetzt sei. Du weißt, meine Herzensfreundin, daß solches Wetter die Seele freudig stimmt und daß man Flügel nehmen möchte, um in die schöne Welt hinaus zu fliegen, wenn das bei den vorhandenen Jagdrevieren nicht gar zu gefährlich wäre. Als Trappe oder sonst ein großes, seltenes Thier herabgeschossen zu werden, erkläre ich nun eigentlich nicht für das Endziel meiner Wünsche. Nein, ganz gewiß nicht. Also, wie gesagt, die Sonne hat sich wundervoll herausgeputzt und macht mir Freude, und in dieser gehobenen Stimmung setze ich mich auf den bekannten mit dem bunten Papagei bestickten Schreibsessel, um endlich Deine Zeilen zu beantworten. Mein Gott, Herzenskind, wo war ich denn eigentlich stehen geblieben, und was wollte ich Dir doch alles erzählen? Man sollte sich Notizen machen, bevor man sich ans Briefschreiben begiebt. Niemals sollte man unterlassen, empfangene Briefe vor der Beantwortung noch einmal durchzulesen, um zu sehen, mit welchen Gegenäußerungen man den Briefschreiber erfolgreich ärgern oder entzücken kann. Sodann wäre zu berichten über eigenes inneres und äußeres Dasein, also über Hoffnungen, Freude, Schmerz, Liebe, Zahnweh, Halsweh und Freundschaft. Ferner über Bälle, drückende Stiefel, langweilige Visiten, anziehende Bücher, Klavierspiel und Dienstbotenverdruß. Bei Liebe und Freundschaft, gute Ingeborg, fällt mir ein, daß Graf Snarre noch immer hier ist und mich in unerlaubter Weise verzieht. Daß ich öffentliches Aergerniß errege, ist sicher, ich sehe bereits manches Fräulein mit neidgelbem Angesicht an mir vorüberschreiten, ihr Gruß ist steif und herablassend, als sei ich in meinem Lebenswandel höchst tadelnswerth, als sei ich ein kokettes sündiges Geschöpf, das mit vollen Segeln dem Abgrund entgegentreibt. Du fragst in Deinem letzten Brief, wie weit das luftig ernste Spiel zwischen mir und dem Grafen gediehen sei. Darauf, mein verehrtes Fräulein, kann ich Ihnen keine Antwort geben. Ich hatte Snarre bei seinen vielen guten Eigenschaften, die mich zu ihm hinziehen, für veränderlich, unschlüssig und von augenblicklichen Bequemlichkeitsstimmungen recht sehr abhängig, also vielleicht ist alles doch nur Strohfeuer. Dann geht die kleine Ericius in eine stille Ecke und weint sich aus, und wenn sie sich ausgeweint hat, wird sie sich sagen: auch ein Mädchen soll sich in ernsten Lebensverhältnissen als ein Mann zeigen und so gut es geht in das Unabänderliche schicken – aber, mein Herzenskind, schnell wird’s mit dem Weinen nicht vorbei sein – – – da hast Du mein Bekenntnis!

Hier ist noch solch ein in Zweifeln, aber in weit schwereren Zweifeln seinen Kopf abends in das Bettkissen drückendes Geschöpf, es heißt Susanne, einstige Utzlar, geborene Ericius. Um Dir das deutlich zu machen, muß ich Dir eine kleine Geschichte erzählen. Also höre:

Es war einmal ein stolzes Burgfräulein, das goldene Spangen und eine Schleppe trug, so lang wie der Schweif eines schimmernden Kometen. Aber sie hatte ein launisches, hoffährtiges Gemüth und däuchte sich eine Brunhild gegenüber den Männern. Den sie mit ihrer Hand beglückte, der sollte ein Muster seiner Gattung sein, stark und weich, klug und schwärmerisch, stolz und unterwürfig, vornehm von Stand und doch schlicht bürgerlich in seinem Auftreten, kurz ein Mann, der die verschiedensten Eigenschaften in sich vereinigte. Sie sah wohl ein, daß ein solcher, wie ihr Herz ihn begehrte, wie sie allein ihn ihrer werth hielt, auf dieser Erde schwer zu finden sein dürfte, ja nach und nach hatte sich der Gedanke in ihr festgesetzt, daß es kaum möglich sei, ihn zu finden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 634. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_634.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2022)