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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Halbheft 21.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1890. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(2. Fortsetzung.)


5.

„Es ist zu ärgerlich! – Wenn man nur wüßte, was man thun soll!“ Annie Gerold stand im Wohnzimmer, halb gegen das Fenster gekehrt, und sprach diese Worte in etwas unmuthigem Ton.

„Ein Ausspruch voll tiefster Lebensweisheit!“ ließ sich Thekla vernehmen, die in ihrem Armstuhl am Tisch saß, ein Tablett mit sehr starkem Kaffee und vier übereinander gestapelte Bücher neben sich. „Kind, wenn jeder wüßte, was er thun soll –– wirklich soll von Rechts und Gewissens wegen, meine ich! – es stünde anders um die liebe Menschheit! – Darf man denn fragen, worauf im besonderen Dein tiefer Ausspruch Bezug nahm?“

„Ich sollte lieber Nein sagen, denn ich weiß im voraus, Du lachst mich aus, aber am Ende ist das ja nichts Neues mehr! Also in zwanzig Minuten ist’s Zeit, in die Kirche zu gehen – Du weißt, heute hält Conventius seine Antrittspredigt – ich bin noch im Morgenrock und weiß beim besten Willen nicht, welches Kleid ich anzuziehen habe, weil das Wetter alle fünf Minuten ein anderes Gesicht macht. Soeben schien noch ganz hell die Sonne, und jetzt ist sie fort und der Himmel hängt voll grauer Wolken. Da! Es fängt richtig an zu regnen!“

Thekla nahm einen Schluck Kaffee, wischte sich über den Mund und lachte; ihre klugen Augen funkelten spottlustig.

„O – also eine Toilettenfrage! Wie schwer macht es doch der liebe Herrgott seinen Kindern, sich ihm in einem schicklichen Gewande zu nahen! Zwar heißt es: vor Gott sind wir alle gleich, und an die Augen seiner Mitchristen wird ja doch keiner beim Kirchgang denken –“

„Pfui, Thekla! Du weißt recht gut, daß es mir nicht ganz einerlei ist, wie ich aussehe, es sei, wo es sei! Und nun habe ich das schöne neue Kostüm – es gefiel Dir ja selbst, und Du fandest, es stehe mir hübsch! – und nach dem Gottesdienst werden sicher hier die Ulanen Besuch machen … wenn Du Dich in meine Lage versetzen möchtest –“

Thekla drehte bedächtig eine Schnitte gebutterter Rostsemmel in der Hand.

„Hm! Ein bißchen viel von mir verlangt! Ich war nie hübsch wie Du – und wenn ich mich recht zurückbesinne, war ich eigentlich auch nie jung – ich glaube, ich bin als spintisirende, grübelnde, häßliche alte Jungfer auf die Welt gekommen!“

Annie machte eine rasche Bewegung, als wollte sie ihre Schwester umarmen und ihr einen Kuß geben – aber sie unterdrückte diese Kundgebung. Sie wußte, Thekla konnte kein Mitleid ertragen. „Wenn die Leute einen doch nur damit verschonen wollten!“ pflegte sie zu sagen. „Tiefer als über den Rand der Lippen geht es doch kaum einem einzigen – möchten sie doch ihr landläufiges Mitleid lieber in Thaten umsetzen, damit ließe sich eher etwas anfangen!“

Der erste Leseunterricht. Nach einem Gemälde von F. Defregger.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 645. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_645.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2020)