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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Da Annie im Augenblick keine That einfiel, die ihre Schwester gewürdigt hätte, zuckte sie leicht die Achseln und sah wieder rathlos zum Fenster hinaus.

Die andere hatte die rasche Bewegung der jungen Schwester recht gut gesehen und ihre Bedeutung errathen, sie wiegte lächelnd den Kopf hin und her.

„Ja, so ein richtiger Vorfrühlingstag, der läßt nicht mit sich spaßen, der treibt es kraus und bunt, wie’s ihm durch den Sinn fährt, mit Hagelschauern, Schneegestöber, schmeichelnden Sonnenstrahlen und Regengüssen – seht zu, wie Ihr es macht, Ihr dummen, kleinen Menschenkinder, ich treibe mein Wesen, unbekümmert um Euren Firlefanz. Hm, hm! Die neue Toilette steht Dir wirklich auffallend gut zu Gesicht … die Ulanen nicht zu vergessen! Nun, Vögelchen, ich werde Dir ’mal etwas sagen! Kann ich mich auch nicht in Deine Gefühle hineinversetzen, so will ich einmal im Sinn unseres lieben Vaters reden – das wird mir um ein gut Theil leichter. Was meinst Du wohl, was würde er bei einer Gelegenheit wie diese zu Dir sagen?“

Annie drehte sich blitzschnell zurück, freudige Erwartung in jedem Zug ihres jungen Antlitzes; zwei reizende Grübchen waren darin aufgetaucht. „Nun?“ frug sie gespannt.

„‚Kindchen, man ist nur einmal jung, man bleibt auch nicht immer hübsch! Versage Dir niemals eine Freude, wenn sie ohne Gewissensbisse zu haben ist! Bis zur Lukaskirche ist’s keine halbe Meile, schöne Kleider sind leicht zu ersetzen, sollten sie verdorben werden … lieber Himmel, die Damenschneider wollen auch leben!‘ – So würde der Vater sprechen. Bist Du zufrieden? – Schön! Und nun, Vögelchen, flieg’ aus!“

Das Vögelchen flog nun doch noch der Rednerin dankbar um den Hals und dann zur Thür hinaus; draußen hörte man es eifrig: „Agathe! Agathe!“ rufen.

Auf Theklas scharfgeschnittenem Leidensantlitz erschien ein wehmütiges Lächeln; sie beendete ihr Frühstück, schob das Tablett zurück und vertiefte sich in eines ihrer Bücher. Wie gewöhnlich vergaß sie darüber alles um sich her und sah nicht einmal empor, als die Thür nach einer Weile hastig geöffnet würde und ihre junge Schwester, schön wie ein Frühlingstag, eintrat.

„Nun, Thea?“

„Siehst Du, Kind, ich habe auch so eine Art von Morgenandacht!“ Sie sah noch immer in ihr Buch. „Ich schlief nicht gerade sehr süß in dieser Nacht und überlegte mir fortwährend eine Sache, die mir schon seit lange im Kopf herumgeht – und nun finde ich es hier im ‚Helmholtz‘ bestätigt, daß ich wirklich noch keines von den dümmsten Frauenzimmern bin, die auf unserer Erde wachsen – unser Vater würde sich wieder über das freuen, was er Ahnungsgabe bei seinem Amanuensis nannte! Helmholtz sagt nämlich …“

Aber Annie konnte wirklich nicht mehr hören, was Helmholtz sagte – denn gerade jetzt setzten mit volltönigem Geläut die Glocken von Sankt Lukas ein; Agathe, ein frisches, grauhaariges Weiblein, erschien in der Thür, ein in Sammet gebundenes Gesangbuch und einen feinen Regenschirm in den Händen, und rief:

„So – aber nun ist es allerhöchste Zeit, Vögelchen! Sie läuten schon. Nein, wie der Anzug sitzt, und wie die Farbe zu Gesicht steht – und da bricht auch eben wieder die liebe Gottessonne durch! Hier, Annie, und bet’ auch schön mit für Deine alte Agathe! Ich gehe, den Salon fein herrichten, wir kriegen ja heute Herrenbesuch!“

„Ja so!“ – Thekla legte den „Helmholtz“ beiseite und kam in die Wirklichkeit zurück. „Laß Dich schnell noch ansehen, Kind! Sehr hübsch! Setz’ Dich nicht auf den Präsentirteller, damit Du nicht unheilige Nebengedanken in Deinen Brüdern erweckst! Adieu – und, wenn Du kannst, gieb auch ein bißchen auf die Predigt acht, ich möchte doch wissen, was dieser nagelneue Gottesstreiter, zumal er ja auch unser Haus mit seinem Besuch beehren will, dem versammelten Volk erzählen wird!“ –

Annie liebte es nicht, wenn Thekla in diesem ironischen Ton von religiösen Dingen sprach, und diese that sich häufig genug Zwang an. Heute hatten sie aber das neue Frühjahrskostüm und die Ulanenlieutenants zum Spott gereizt, und sie konnte ihre satirisch Ader nicht verschließen.

Und doch that sie Annie unrecht, wenn sie wähnte, diese betrachte die Kirche als Nebensache. Annie hatte eine unbefangene, kindliche Freude an der Thatsache, daß sie hübsch war, sie wählte ihre Kleidung nicht wlllkürlich, sondern mit Geschmack und Bedacht, es machte ihr Vergnügen, eine neue, kleidsame Toilette anzuziehen, aber darum war sie noch lange keine eitle Modenärrin. Und wie sie jetzt im hellen Sonnenschein langsam über den großen Lukasplatz hinschritt, hatte sie ihren Anzug und ihr Aussehen gänzlich vergessen und war mit ihren Gedanken einzig bei dem, was sie heute zu hören bekommen sollte: der Antrittspredigt Reginalds von Conventius. Wie er wohl sprechen – was er sagen würde? Sie dachte es sich unendlich schwer, zu einer ganz fremden Gemeinde zu reden, und aus verschiedenen Aeußerungen des Geistlichen, deren sie sich aus ihrem neulichen Gespräch entsann, hatte sie entnommen, daß auch er sich der Schwierigkeit seiner Aufgabe voll bewußt sei und es überaus ernst mit seinem Berufe nehme. Tief in Gedanken ging sie einher, während die feierlichen Glockenklänge über ihrem Haupt durch die milde Luft zogen.

So sah sie der, welcher eben jetzt von der entgegengesetzten Seite auf den Lukasplatz zukam – er wollte nicht zur Kirche, er war auf einem einfachen Morgenspaziergang begriffen – weiter nichts. Sein Hund war bei ihm, und das kluge Geschöpf stutzte, als es seinen Herrn stutzen sah. Quer über den von eben gefallenem Regen nassen Asphalt, in dem der jetzt leuchtend blaue Himmel sich spiegelte, kam Annie Gerold in ihrem knapp sitzenden, gewählten und dabei einfachen Kostüm von steingrauem Tuch, einen großen, breitgerandeten Hut mit kostbaren silbergrauen Federn auf dem nußbraunen Haar, das schöne, frische Antlitz leicht geneigt, die Augen gesenkt, ihr in Sammet gebundenes Gesangbuch in der Hand.

„Ego! Zu mir!“ Ein scharfer Pfiff begleitete den Ruf und riß die schöne Kirchgängerin jählings aus ihren Gedanken.

Der Neufundländer hatte auskundschaften wollen, was seinen Herrn so zusammenfahren machte; er war ohne weiteres über den Platz getrabt und hatte Miene gemacht, die junge vertiefte Dame freundschaftlich zur Außenwelt zurückzuführen.

Das war nun ohnehin geschehen, und Ego sprang gehorsam zurück und hob fragend seinen Kopf zu dem Gebieter empor: „Was nun?“

Ja – was nun? Ausweichen hätte ungezogen ausgesehen – ein ritterlicher Gruß vielleicht – stummes Weitergehen, – da stand er schon dicht vor ihr und hielt den Hut in der Hand.

„Haben wir Sie erschreckt, Gnädigste? Es thut mir sehr leid! Bitt’ um Verzeihung, Ego!“

Das schöne Thier senkte reumütig tief den Kopf und winselte leise.

„Es thut nichts!“ Annie legte ihre Hand auf Egos Rücken und lächelte seinen Herrn an. „Ich war nur so ganz mit meinen Gedanken bei – bei -“ Sie stockte; es wollte ihr doch gar zu merkwürdig klingen, wenn sie geschlossen hätte: beim Prediger Conventius.

„Sie gehen zur Kirche?“

„Ja! Haben Sie denn vergessen? Heut’ hält ja Pfarrer Conventius seine Antrittspredigt – sehen Sie, welche Menschenmenge in die Kirche strömt! Ich dachte, Sie wollten auch dorthin, Herr Professor!“

„Ich? Nein – ich hatte nicht die Absicht … und wenn ich sie jetzt habe … würden Sie mir gestatten, mit Ihnen zu gehen?“

„Ich habe nichts zu gestatten, das Gotteshaus gehört uns allen!“

„Aber nicht wir alle gehören ihm!“

Sie sah ihn forschend mit ihren schönen, klugen Augen an.

„Sie gehen nie in eine Kirche?“

„Sehr oft, – um die Bauten und die Malereien kennen zu lernen.“

„Zu keinem andern Zweck?“

Nein! Bisweilen hätte ich sehr das Verlangen, eine gediegene, ernstgemeinte Predigt zu hören, – aber ich kann nicht willkürlich sagen: heut’ ist Sonntag, heut’ ist die Kirche geöffnet, heut’ willst Du Dich erbauen lassen! Ich muß die Stimmung dazu in mir fühlen. Die kommt über mich, unvermittelt, urplötzlich, unabhängig von Ort und Zeit! Oft ist es ein gewaltiger Natureindruck, zuweilen ein menschliches Wesen, oft ein an sich ganz unbedeutendes Ereigniß, das den fast leidenschaftlichen Wunsch in mir wachruft: jetzt eine feurige und überzeugte Rede hören, die alles das sagt, was Du dunkel in Deinem Innern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_646.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)