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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

empfindest, – jetzt einen Ausdruck für das, was sich in Deiner Seele emporringt, … aber den klugen und frommen Priester, der mir solches in solcher Stimmung geben könnte, – den habe ich bisher noch nie gefunden.“

„Vielleicht finden Sie ihn heute!“

Annie sagte es rasch und erröthete gleich darauf, – mußte er nicht denken, sie wünsche nichts sehnlicher, als seine Begleitung?

„Es ist nicht unmöglich, – sogar wahrscheinlich, nach allem, was man mir von diesem Mann gesagt hat.“

„Nun, – und Ihre jetzige Stimmung?“

Sie waren der Kirche ganz nahe gekommen, man hörte die Orgel brausen. Mit seinen mächtigen Augen sah Delmont das junge Mädchen an, zwang sie gleichsam, still zu stehen und seinen Blick zu erwidern.

„Brauche ich Ihnen wirklich noch zu sagen, daß die Stimmung plötzlich da ist? Ich sagte Ihnen, sie hinge oft von einem Naturereigniß, oft von einer geringfügigen Begebenheit, zuweilen von einem menschlichen Wesen ab. Das letztere aber ist sehr, sehr selten. Glauben Sie, daß ich zu jedem reden würde, wie ich jetzt zu Ihnen gesprochen habe? Ich bin menschenscheu, verdüstert und verschlossen – man hat es Ihnen ohne Zweifel von mir gesagt, und man hat recht gehabt. – Sie wissen, wie es kam, daß die Stimmung urplötzlich da ist – die Stimmung, die Ihnen vielleicht ein sehr unwürdiger Trieb ist, ein Gotteshaus zu betreten; ich kann aber nicht anders. Sie sollen mich kennen, wie ich bin! Darf ich nun noch bitten, daß Sie meine Begleitung annehmen?“

Als Antwort neigte sie stumm das Haupt – ihre junge Seele bebte in einem neuen, seltsamen Empfinden. Sie hatten die untersten Stufen, die zu dem geöffneten Portal führten, betreten; langsam stiegen sie aufwärts und betraten nun nebeneinander das Gotteshaus. –

Ein voller Strom gewaltiger Orgelmusik brauste ihnen entgegen. Ein Bekannter des Conventiusschen Hauses, ein berühmter Orgelspieler, hatte, der Antrittspredigt des neuen Geistlichen zu Ehren, seinen nur kurz bemessenen Aufenthalt in F. verlängert, um dem feierlichen Akt eine doppelte Weihe zu geben. Hier und da hatte sich das Gerücht dieses bevorstehenden musikalischen Hochgenusses herumgesprochen, und so hatten sich nicht nur die höhern Gesellschaftsklassen, die einen Aristokraten gern auf der Kanzel sehen, nicht nur neugierige junge Mädchen, die einen schönen Mann bewundern, nicht nur gesetzte, verständige Leute, die wirklich als Gemeindemitglieder den neuen Seelsorger kennenlernen wollten – – es hatten sich auch Musikprofessoren, Pianisten, Kritiker, Organisten in stattlicher Anzahl eingefunden, kurz, wie ein Zeitungsberichterstatter seinem Nachbar ins Ohr flüsterte, „es hatte sich ein äußerst gewähltes und zahlreiches Publikum versammelt und man erkannte die Lukaskirche kaum wieder, da der letzte Prediger sich mehr und mehr unbeliebt gemacht und das Publikum wahrhaft aus dem Tempel hinausgepredigt hatte.“

Annie Gerold schritt wie jemand, der seinen Weg genau kennt, durch die dichtbesetzten Reihen, sie nickte dem Küster, als einem alten Bekannten, zu und gab ihm einen Wink mit den Augen. den er sogleich verstand. Er schloß eine kleine Seitenbank auf, die, fast ganz hinter einem der mächtigen Pfeiler verborgen, den Blick auf die Kanzel gewährte, die auf der Bank Sitzenden aber fast gänzlich der Beobachtung der übrigen Kirchenbesucher entzog.

Hier hinein gingen das junge Mädchen und der Maler wie zwei Zusammengehörige; Annie machte sich aber keine Gedanken darüber, wie ihre Bekannten wohl diese ihre Begleitung deuten würden; ein wunderbares Gemisch von Glück und Bestürzung wogte in ihrem Innern, und dazu war sie mit aller Kraft bestrebt, ihre Seele voll dem zuzuwenden, um deswillen sie heute hierhergekommen war.

So versteckt auch das Plätzchen der beiden lag, – unbemerkt waren sie doch nicht bis dahin gekommen. Aus der Gruppe von Ulanenoffizieren, die nach der Mitte der Kirche hin Unterkunft gefunden hatten, kam ein klirrendes Geräusch – jemand unter ihnen hatte seinen Schleppsäbel etwas unsanft gegen den mit Fliesen ausgelegten Fußboden gestoßen und dazu ein nicht zeitgemäßes „alle Hagel!“ vor sich hingemurmelt. Fritz von Conventius war’s, dem der Aerger über das „unerhörte Glück, das dieser Mensch, der Maler, hatte,“ in den Hals stieg, und der, auf Thor von Hammersteins leises: „Was ist?“ nur eine bezeichnende Kopfbewegung nach den beiden machte, die soeben um eine Ecke verschwanden.

Parsifal hatte sie nun richtig auch noch gesehen und stieß im tiefsten Baß einen Laut des Unwillens heraus, der ihm von seinem Kameraden Gründlich die geflüsterte Frage eintrug: „Thor, Sie waren wohl noch niemals in einer Kirche?“

Professor Delmont saß neben Annie Gerold auf der schmalen Kirchenbank, es war ihm unendlich wohl. Die hohe, schöne Kirche, die, in ganz reinem gothischen Stil erbaut, Verhältnisse von großer Formenschönheit aufwies, die prachtvolle Bachsche Fuge, die sich unter den Händen des vortrefflichen Spielers wie ein kunstvoll gegliedertes Bauwerk vor ihm emporhob – die Nähe des reizenden Mädchens, die Abgeschiedenheit des Platzes, alles wirkte eigenartig erhebend und besänftigend zugleich auf sein empfindliches Innenleben; die „Stimmung“, von der er soeben zu Annie gesprochen, hatte ihn noch nie so völlig in Fesseln geschlagen wie eben jetzt. Vergessen waren seine Vorsätze vom neulichen Abend, vergessen alles, was ihn gequält und beunruhigt hatte; schon Annies unerwarteter Anblick allein hatte genügt, ihn mit einem Schlage jung und fast heiter zu stimmen wie in jener Abendgesellschaft bei Weylands – jetzt kam noch die Einwirkung des Gotteshauses, der schönen Musik dazu, um eine Begeisterung in ihm zu wecken, wie er sie in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt zu haben meinte. Es trug ihn wie mit Flügeln empor, – Motive, Bilder, Ideen drängten sich in seinem Geist, er fühlte sich erfinderisch und schaffensfreudig wie kaum in den Tagen seiner ersten schwärmerischen Jugend – und wehrlos gab er sich dem Zauber gefangen, der dies Feuer in ihm entzündet hatte.

Durch die spitzbogigen Fenster mit buntem Glase sah die Sonne herein – ein schräger Strahl schlich sich über Annies kastanienfarbenes Haar und tönte es mit Goldlichtern ab; er flimmerte auf dem weißen Halse und zitterte in den langen, dichten Wimpern, die tief gesenkt blieben und dem schönen Gesicht einen so süß träumerischen Ausdruck gaben. O junges, blühendes Leben!! –

Es war eine kraftvolle, metallisch klingende Stimme, die jetzt in die weite Kirche hinaustönte, und der Sprecher da oben auf der Kanzel, hoch und schlank und schön, sah nicht zaghaft aus und nicht verlegen, nein, freudig und zuversichtlich, ein echter „Streiter Gottes“!

Die Damen reckten die Köpfe, um ihn besser zu sehen, es ging eine Bewegung durch die Menge, wie wenn der Wind über ein volles Aehrenfeld hinfährt. Unter den Ulanen murrte einer: „Jammer und Schade! Was für einen Gardeoffizier hätte der abgegeben!“ – Dann kam eine lautlose Stille. –

Und wieder die metallene, kraftvolle Stimme:

„Wo der Herr nicht das Haus bauet, da arbeiten umsonst, die daran bauen. Wo der Herr nicht die Stadt behütet, da wachen die Wächter umsonst.“

Dies Wort, einem der Psalmen entnommen, war der Text der Predigt.

Wie er sie ausführte? Groß und leicht und frei, in schlichtester Weise – wie ein Mensch, der zu Menschen spricht! Wie er voll Dank und voll Zuversicht in diese Stadt, in dies Haus gekommen sei, wie er es ihnen allen heute danke, daß sie ihn aufgesucht hätten an der neuen Stätte seines Wirkens, wie ihn eine ernste, gehobene Freudigkeit erfülle, nun er sein Arbeitsfeld bestellen, den Platz, den Gott ihm angewiesen, ausfüllen könne nach bester Kraft. Er bat sie alle, die hier versammelt seien, ihm zu helfen bei seiner Aufgabe, ihm Vertrauen und guten Willen entgegenzubringen; und dann bat er Gott, das Haus zu bauen, die Stadt zu behüten, auf daß ihre Wächter nicht umsonst wachten. Sie alle, die heute hier beisammen seien, könnten helfen, das Haus zu bauen, durch Eintracht, durch werkthätige Liebe, durch wahres Bestreben, dem Nächsten zu nützen. In einfachen und doch so beredten Worten hob er hervor, welch’ köstliches Ding es sei um ein gut gebautes Haus, um eine wohlbehütete Stadt – köstlich, und doch, wie selten zu finden! Er eiferte nicht in heftiger Rede gegen die heutige Zeit – er war aber traurig und meinte, es sei unsagbar schwer, mit den Waffen des Glaubens zu kämpfen, jetzt, wo der Unglaube gewissermaßen schon in der Luft liege, wo Kinder und Unmündige mit sogenannten „freien Ansichten“ genährt würden, wo die seltenen Ausnahmen, die sich den Gottesglauben noch gerettet hätten, sich gar schämten, denselben laut zu bekennen, weil

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 647. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_647.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)